Schreib das auf, Kisch!

Titel:
Schreib das auf, Kisch!

Autor:

Egon Erwin Kisch (29. August 1885 in Prag, Böhmen - 31. März 1948 in Prag, Böhmen)
Politische Bedeutung:

Linksorientiert; nach dem Ersten Weltkrieg Hinwendung zum Kommunismus.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Ja; Kisch rückte am 31.7.1914 als Korporal in die Armee und kämpfte an der serbischen, ab Februar 1915 an der Ostfront, wo er am 18. März 1915 schwer verwundet und folglich für felddienstuntauglich erklärt wurde; ab 1916 arbeitete er als Zensor.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Ja; der Text ist in Form eines Tagebuchs geschrieben und suggeriert, authentische Erlebnisse des Autors zu schildern.

Bibliographie

Schreib das auf, Kisch!
Erscheinungsjahr, Auflage:
1930, 1. Auflage 1930
Verlag, Ort:
Erich Reiss, Berlin
Seitenzahl:
293 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Am Ende des Buches Werbung für weitere erschienene Texte von Kisch.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Homodiegetischer Erzähler; das Buch ist in Form von Tagebucheinträgen verfasst, die die Authentizität des Erzählten unterstützen soll.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Ja; Wiedergabe von Kriegsberichten aus unterschiedlichen Zeitungen, die die Zensur und Verzerrung der Informationen über die Kriegsereignisse demonstrieren sollen. Außerdem ein kriegskritisches Gedicht des Autors (253f.)

Raum:

Geographischer Raum:

Die Handlung fängt mit einer Zugreise bzw. später einem Fußmarsch durch viele böhmische, österreichische und serbische Städte Österreich-Ungarns zu der Balkanfront an, wo folglich die Schlacht an der Drina beschrieben wird. Später Rückzug über Belgrad nach Österreich. Folglich ein Umzug über Slawonien und Karpaten nach Bukowina. Am Ende eine Zugreise über Wien nach Prag.

Umfang des Spielraumes:

Hinterland, Zugreise auf die Front, Balkanfront, Hinterland, Ostfront, Hinterland.

Zeit:

Da das Buch in Form von Tagebucheinträgen geschrieben wurde, die mit genauen Daten versehen sind, lässt sich die Handlungsdauer ganz genau als Zeitspanne zwischen dem 31. 7. 1914 - 22. 5. 1915 bestimmen. Die Handlung fängt mit der allgemeinen Mobilisierung Österreich-Ungarns an und endet mit der Niederlage der Festung Przemysl.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Da sich die Mehrheit der Handlung in Serbien abspielt, wird ein ausführliches Bild serbischer Soldaten sowie serbischer Zivilbevölkerung geliefert. Diese werden im Text als mutige, zum Tode entschlossene und manchmal heimtückische Kämpfer, ihre Offiziere im Unterschied zu den österreichischen als nicht luxussüchtig dargestellt. Durch ihr mutiges und hartes Vorgehen in der Schlacht an der Drina wirken die serbischen Einheiten auf die österreichischen Soldaten als unbesiegbar, auch wenn sie zahlenmäßig sowie technisch viel schwacher als die k.u.k. Armee sind, was sich jedoch den österreichischen Soldaten erst im Laufe der Kämpfe offenbart. Keine ausdrücklich negativen oder positiven Bewertungen der Serben.

„In einem Wagen fuhr eine verwundete Serbin vorüber. Sie hatte angeblich einen Brunnen vergiftet und war dabei ertappt worden; als sie flüchtete, sandte man ihr einen Schuß nach. Ein Serbe wurde mittels Automobil ins Korpskommando eingeliefert. Er trug die Uniform eines Infanteristen unserer bosnischen Regimenter. Der Junge – er soll ein serbischer Offizier sein – hatte die Augen verbunden. In seinem Gesicht zeugte kein Fältchen von Besorgnis oder gar von Angst, obwohl ihm der Tod von Henkershand gewiß ist. Den gleichen entschlossenen, gleichmütigen Eindruck mußte ich von einem Komitatschi gewinnen, der in seiner tiaraartigen, schwarzen Fellmütze mit Handschellen in das Gendarmeriekommando ein geliefert wurde. So leicht, wie man´s denkt, wird der Kampf nicht sein gegen diese zum Tode entschlossene Welt!“ S. 27

„Der Rückzug dehnte sich bis in die stockfinstere Nacht, jeden Augenblick kamen wir in andere Trainkolonnen, jeden Augenblick in andere Artillerieregimenter, die Kotmassen preßten die Räder wie Zangen und hielten sie jede Weile an, so daß Fluchen und Schreien die Nacht erfüllte. Immerhin war die Stimmung nicht so verzweifelt wie einst im August. Wie konnten uns nicht vorstellen, daß uns die Serben auf den Fersen seien, denn wir hatten doch in letzter Zeit gesiegt und glaubten nicht mehr, seit wir mit serbischen Gefangenen gesprochen hatten, an die Tollkühnheit, an die Todesverachtung, an den wilden Haß und an die Unbesiegbarkeit der Serben.“ S. 223

Freundbild:

Der Text liefert ein komplexes Bild des österreichischen Kriegswesens und der Verhältnisse innerhalb der k.u.k. Armee. Der Erzähler nimmt eine kritische Stellung zu den leitenden Kräften der österreichischen Armee ein, die im Allgemeinen als chaotisch und unmenschlich beschrieben werden. Viele von den Offizieren verhalten sich feige, bestehen auf unsinnigem Einhalten von Befehlen und genießen dank dem herrschenden Protektionismus bessere Bedingungen als einfache Soldaten. Die Beziehungen der Soldaten zu ihren Vorgesetzen werden dementsprechend als misstrauisch und allgemein eher negativ dargestellt, was v. a. nach den verlorenen Kämpfen an der Drina zum Ausdruck kommt. Äußerst kritisch werden außerdem Offiziere sowie andere höhere Militärmitglieder, die im Hinterland ihre Macht über die niedriger gestellten Soldaten durch Missbrauch der Frauen derselben ausnutzen. Negativ geschildert wird das Oberhaupt der österreichischen Balkanstreitkräfte Oskar Potiorek, der die wirkliche schlechte Situation der österreichischen Armee in Serbien immer wieder verkennt und schließlich, den realen historischen Ereignissen entsprechend, 1915 vom Kaiser abgesetzt wird. Die materiellen Verhältnisse der österreichischen Armee werden vom Erzähler als katastrophal und völlig unzureichend beschrieben.

Außerdem starke Kritik der österreichischen Zensur und des österreichischen Staatswesens, das lediglich in leeren Phrasen kommuniziert und keinerlei Autorität vertritt.

 „Ununterbrochen äußert sich die allgemeine Depression in Verwünschungen und Verdächtigungen der Führer. ‚Lauter unfähige, alte Esel sind unsere Generäle.ʻ – ‚Wer Protektion hat, dem wird das Schicksal von Hunderttausenden anvertraut.ʻ“ S. 65

„Dennoch stimmt Frau Balzer ihrem Gatten darin bei, daß die Offiziere „von drüben“ einfach und bescheiden sind, ganz anders als die österreichischen Herren, die nur mit ihresgleichen verkehren und in Betten schlafen wollen, während die serbischen neben der Mannschaft im Stall nächtigen.“ S. 244f.

„Selbst die belanglosesten Mitteilungen auf Feldpostkarten werden von der hochwohllöblichen und infalliblen Zensur der Rechnungsoffiziere nicht zur Beförderung zugelassen. Geheimhaltung aller Nachrichten ist gewiß nötig, aber die Serben wissen doch genau, wen sie vor sich hatten, finden doch Bajonette und Gewehre mit den Nummern unserer Regimenter, finden doch Monturstücke mit den Paroli unserer Korps, und selbst wenn sie daraus nichts agnoszieren könnten, so fänden sie in den Legitimationskapseln der Verletzten, Toten und Gefangenen, in den Namenszetteln der zu Tausenden aufgefundenen Uniformstücke, Tornister und Brotsäcke viel mehr, als Spione je erzählen könnten. Die Mitteilungen unserer Feldpostkarten könnten sie also gar nicht interessieren, selbst wenn sie ihnen zugänglich wären. Die einzigen, die nicht einmal erfahren dürfen, daß wir in Serbien sind, sind unsere Angehörige.“ S. 70

„Der Kaiser hat einen Neujahrswunsch an die Truppen geschickt, und das Kriegsministerium Abt. 5 als Akt Nr. 9072 eine Druckschrift „Kriegserfahrungen und Folgerungen für die Ausbildung“. Sie umfassen nur vier Seiten, die Kriegserfahrungen des Ministeriums, aber man staunt, wieviel Phrasen auf vier Seiten gehen. Und selbst diese Phrasen sind in den unterschiedlichen Reglements längst enthalten, es strotzt  von wohlvertrauten begriffen wie „moralische Erziehung“, „soldatische Pflichttreue“, „opferwillige Hingabe an Monarchen und Vaterland“, „disziplinäre Schulung“, „äußerste Zähigkeit“, Hebung des kriegerischen Geistes“. Konkret sind eigentlich nur zwei Sätze: „Gegenseitiges Beschießen eigener Truppen muß unter allen Umständen vermieden werden und darf seitens unserer Artillerie niemals vorkommen.“ Schau, schau! Bisher hat man jedenfalls geglaubt, daß gegenseitiges Beschießen eigener Truppen als harmlose Unterhaltung von Infanterie und Artillerie erlaubt sei.“ S. 254

Zivilbevölkerung:

Thematisiert wird hauptsächlich die serbische Zivilbevölkerung. Diese wird als materiell stark von dem Krieg betroffen beschrieben und verhält sich den österreichischen Soldaten gegenüber mehr oder weniger freundlich. Der Erzähler vermutet allerdings, dass sich das Verhalten von der jeweiligen Kriegslage abhängt und sich im Falle von österreichischen Niederlagen bzw. eines Rückzugs schnell ins Negative ändern könnte.

„Immer mehr der heimkehrenden Familien begegneten wir, auch Männer, die anscheinend in wehrfähigem Alter sind, waren darunter. Kinder haben die olivengrünen Mützen der serbischen Soldaten auf, viele Knaben und auch Frauen serbische Uniformblusen mit Aufschlägen. Heitere Aufmerksamkeit erregten die Frauen, die unsere feldgrauen Blusen trugen. Massenhaft Zigeuner gibt es hier.

Die Leute sind schon mutiger geworden, sie stehen vor ihren Hütten und schenken uns Rakja und Wasser, um unsere Gunst zu gewinnen. Wenn man etwas fragt, neigen sie sich devot bis zur Erde und versichern, daß sie unsere „untertänigste Diener“ seien und wenn Offiziere vorüberreiten, schwingen sie die Mützen und schreien: „Živio Austria“. Natürlich würden sie begeistert auf uns schießen, wenn wir nachts auf einem Rückzug durchkämen.“ S. 199f.

Intertextualität:
Einstellung zum Krieg:

Eindeutig negativ, der Krieg wird eindeutig als Ursache physischen sowie psychischen Leidens der an ihm beteiligten Soldaten sowie der Zivilbevölkerung dargestellt.

Die ablehnende Haltung des Erzählers kommt bereits von Anfang an zum Ausdruck. Im Unterschied zu den Reichsdeutschen, derer Verhalten am Anfang des Krieges durch das Augusterlebnis geprägt wird, ist die Haltung der böhmischen Deutschen sowie der Tschechen dem Krieg gegenüber durch deutlichen Pessimismus geprägt. In Zusammenhang mit der Mobilisation werden sogar Selbstmorde und Wahnsinnigwerden erwähnt.

„In Pisek starb ein Fähnrich vom Train auf dem Marktplatz an Herzschlag. Ein Soldat von der Landwehr hat sich erschossen, ein Kadett von der Artillerie tödlich angeschossen und liegt im Spital. Die Gattin eines Reservisten in Purkraditz ist wahnsinnig geworden. Trotzdem wir solches erfahren, sind wir in bester Laune. Es ist weniger Galgenhumor als Leichtsinn und vielleicht Unkenntnis der Sachlage. Auch hier berührt sich die Wirkung der höchsten Dummheit mit der der höchsten Klugheit: was kann man besseres tun, als sorglos sein?“ S. 16

Die Reise auf die Front, Aufenthalte in der Reserve sowie die Kämpfe an der Front werden wiederholt als körperlich und geistig qualvoll dargestellt, woran hauptsächlich die schlechte Organisierung der österreichischen Armee sowie ihre schlechte Versorgung mit Ausrüstung und Lebensmitteln schuld sind. Im Text wird mehrmals betont, dass die ständige Belastung der Soldaten (Hunger, Durst, Kälte, Begegnungen mit schwer Verletzten und Toten) zur psychischen Folgen wie emotionale Erkaltung, Resignation und Desinteresse an allem führt, was das unmittelbare Überleben der einzelnen Soldaten nicht direkt betrifft. Obwohl die meisten Soldaten als gegen dem Krieg ausgerichtet beschrieben werden, sind sie bereit, rücksichtslos gegen dem Feind zu kämpfen, worin die Technisierung des Krieges durch automatische Waffen und Anonymität des Feindes eine nicht geringe Rolle spielen. Das Verhalten der österreichischen Armee variiert vom durch primitive Triebe geprägten und rein egoistischen Verhalten beim Kampf ums Überleben über positive Gefühle der Zusammengehörigkeit bis zu nachdrücklicher Pietät den gefallenen serbischen Soldaten gegenüber.

„Drei Regimenter liegen wir jetzt am Wall, hart aneinandergepreßt. (73 drüben ist Reserve.) Wir sind über 10 000 Leute hier, und von nachmittags bis abends schießt alles Salven. Jeder hat mindestens 140 Patronen. Sagen wir, jeder habe nur hundertmal geschossen, so wären es eine Million Schüsse; und über uns sausen die Geschosse unserer Artillerie. Serbien muß übersät sein von unseren bleiernen Fabrikaten. Vielleicht trifft eines bei Ub eine arme Greisin, die gerade Äpfel pflückt. Und zu den Millionen eigener Geschosse gesellen sich Millionen serbischer Patronen, serbischer Schrapnelle, serbischer Granaten, denn angeblich stehen sechs serbische Divisionen der unseren gegenüber. Es ist unmöglich, durch diese Ziffern irgendwie einen Begriff des Krawalls zu geben, für den das Wort „Höllernlärm“ ein Euphemismus wäre. Wir sind schon ganz apathisch.“ S. 105

„In der Feuerlinie war mein Gemütszustand nur durch die körperlichen Leiden (die eigenen und die der anderen) gedrückt. Die seelischen Eindrücke waren, wenn nicht gerade die Verwundung oder der Tod eines Kameraden mich betraf, im allgemeinen nicht die ärgsten. Ja, die Primitivität des Lebens hat mich oftmals direkt befriedigt, und wenn ich sah, wie ein Offizier einen Infanteristen, dem er im Frieden kaum auf den Gruß gedankt hätte, um ein Stück Brot oder ein Zigarettenpapier anbettelte, freute ich mich.“ S. 208

„Heute ist Allerseelen. Ein Tag im Jahr ist den Toten frei. Aber alle Tage in diesem Jahr dem Tode. Unsere Soldaten bringen die serbischen Kriegergräber in Ordnung, stellen die Kreuze wieder auf, die der Wind niedergebrochen hat, und machen die Kirchhofswege frei von Unkraut. S. 177

Sinnangebote:

Der Erzähler sieht im Krieg keinen Sinn; der Krieg wird lediglich von den Offizieren und staatlichen Stellen als ehrenhafter Kampf ums Vaterland präsentiert.