Die erste Stunde nach dem Tode. Eine Gespenstergeschichte.

Titel:
Die erste Stunde nach dem Tode. Eine Gespenstergeschichte.

Autor:

Max Brod (27. Mai 1884 in Prag - 20. Dezember 1968 in Tel Aviv)
Politische Bedeutung:

Vertreter des Zionismus, sozialistisch orientiert, pazifistische Weltanschauung. 

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Nein.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Nein.

Bibliographie

Die erste Stunde nach dem Tode. Eine Gespenstergeschichte.
Erscheinungsjahr, Auflage:
1916, 1. Auflage
Verlag, Ort:
K. Wolff, Leipzig
Seitenzahl:
29 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Keine.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Heterodiegetischer Erzähler, externe Fokalisierung; keine weitere Gliederung.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Nein.
 

Raum:

Geographischer Raum:

Die Mehrheit der Geschichte spielt in einem Staatsministerium, im Büro eines nicht näher spezifizierten Ministers namens Klumm. Es wird kein konkreter Ort genannt, eine genaue Lokalisierung ist für die Geschichte belanglos. Aus dem Text geht allerdings hervor, dass es sich um deutschsprachigen Raum handelt.

Umfang des Spielraumes:

Hinterland.

Zeit:

Es wird keine konkrete Zeitangabe angeführt. Da die Erzählung während des Kriegs (1916) erschien und im Text erwähnt wird, dass der Krieg immer noch dauert (seit 20 Jahren etwa), kann der Text als eine Vorstellung näherer Zukunft Europas interpretiert werden.

„…Ich bin überhaupt nichts weniger als ein Freund dieses Krieges, der nun schon das zwanzigste Jahr andauert.“  S.  49

„…Kein Wunder, die meisten von unserer repräsentativen Generation waren noch schulpflichtige Kinder, als der Krieg begann. Wir sind mit dem Krieg aufgewachsen und mit und werden zweifellos nicht so lange leben wie er.“ S. 49

Fremdenbilder:

Feindbild:

Keine konkrete Thematisierung des Feindes oder verfeindeter Nationen; siehe Einstellung zum Krieg.
 

Freundbild:

-
 

Zivilbevölkerung:

-

Intertextualität:

-

Einstellung zum Krieg:

Negativ. Der Protagonist des Textes, Staatsminister Klumm, der den Krieg pragmatisch für ein im Grunde positives Ereignis hält, wird durch eine phantastische Begegnung mit einem Geist zum Umdenken seiner Anschauungen angeregt und kommt schließlich zur Ansicht, dass der Krieg aus der moralischen Perspektive nicht zu verantworten ist.

Klumms ursprünglicher Ansicht nach sind alle Menschen bzw. Nationen in ihrer Natürlichkeit und ihren Zielen gleich, was notwendig zur gegenseitigen Feindschaft einzelner Staaten führt, die gegeneinander ums Überleben und um die Vergrößerung eigenen Lebensraums kämpfen. Dementsprechend gibt es keine allgemein gültige Gerechtigkeit, sondern nur die für einzelne  Völker gültigen Rechte. Die Einstellung Klumms entspricht der lateinischen Sentenz homo homini lupus est („der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“). Nach Klumm (ähnlich wie nach Hobbes, der dieses Zitat von Platon bekanntmachte) geht es um einen natürlichen, vorstaatlichen Zustand des Menschen. Die Menschen sind daran gewöhnt, zu kämpfen. Da der im Text besprochene Krieg bereits seit 20 Jahre dauert, können sich die Menschen einen Zustand ohne Krieg nicht mehr vorstellen. Das gilt aber nicht nur für diese konkrete Situation, sondern auch allgemein – Frieden ist etwas, was nach Klumm im Grunde genommen nie existierte.

„Auch Sie (zum Militärattaché) fallen also immer noch auf solche Phrasen herein, wie die vom verschiedenen Geist der Völker, verschiedenen Ethos der Rassen? […] Lernen Sie doch endlich, mein Herr, daß die Notwendigkeit dieses Krieges nicht beruht auf Völkerverschiedenheiten, die ich ja in mikroskopischen, wirkungslosen Ausmaßen zugebe, sondern gerade auf der unerbittlichen Gleichheit aller Völker, die mit ihren identischen Lebensnotwendigkeiten einander immanenterweise den Raum, die Entfaltungsmöglichkeit, streitig machen müssen.“ S.  52

„Nein, wir sind gerecht, wir erkennen den Wert und das Recht der Feinde vollkommen an. Aber eben je gerechter wir sind, desto klarer erkennen wir ohne jeden Haß und jede Verbitterung, daß auch wir Wert und Recht auf unserer Seite haben, daß es eben, Gott es sei geklagt, nicht ein Recht, sondern zwei und mehrere Rechte auf der Welt gibt, daß unsere realen handgreiflichen Interessen (und nur auf die kommt es an, nicht auf irgendwelche Erdrichtungen) mit den ebenso handgreiflichen Interessen der Feinde kollidieren, daß die Völker kämpfen müssen, weil sie atmen müssen und solange sie eben atmen wollen.“  S. 52-53

Aber wer wagt er ernstlich zu bestreiten, daß wir den Krieg restlos in die Reihe unserer sozusagen instinktiven Lebensfunktionen mit eingereiht haben? […] Die heutige Jugend weiß gar nicht, was dieser sagenhafte Zustand »Frieden« bedeutet, den sie nie erlebt hat. Ja, wenn man es genau nimmt, hat es eigentlich noch niemals Frieden gegeben, so wie es meiner Überzeugung nach auch nie einen geben wird. […] Es war eben immer Krieg, seit die Welt besteht. Krieg ist der natürliche Zustand der Menschheit, nur seine äußere Form wechselt.“ S. 49-50

Klumm hält den Krieg als solchen für nichts schlechtes, er nennt umgekehrt die Vorteile des Krieges. Er regt vor allem den materiellen Fortschritt der Gesellschaft an, ist also eine Triebkraft, dank derer die Menschen ihre Umwelt verbessern und kultivieren, um besser zu leben. Auch wenn Viele wegen des Krieges sterben, sind die Verluste geringer als Gewinne. Der Krieg wird also rein materialistisch und pragmatisch auf seine äußeren Folgen reduziert. Der Vorwurf, der Krieg würde bei den Menschen innerliches Leid und psychische Schaden anrichten, wird mit dem Argument abgetan, der Mensch sei vom Gott zum Leiden verurteilt, weswegen der Krieg an sich keine Ursache dieser Qualen sei.

Unsere Wirtschaftsmaschine arbeitet nach Überwindung einiger anfänglicher Störungen, die uns heute kindlich anmuten, tadellos. Der Export hat aufgehört, der innere Markt hat sich dafür erschlossen. […] Wir nähern uns dem Ideal des Fichteschen geschlossenen Handelsstaates. […] Gewiß bedauert es niemand mehr als ich, daß jährlich einige hunderttausend junge Leute an der Grenze fallen müssen, aber ist den in sogenannten »Frieden« niemand gestorben?  Wir haben es ja durch eine zielbewußte Bevölkerungspolitik […] dahin gebracht, daß die Bevölkerungszahl einen prozentuell höheren Jahreszuwachs zeigt als jemals…“ S. 50 

Die Essenz des Menschseins ist nun eben nicht als böse Begierde, ist Erbsünde, und mir erschein sehr oberflächlich, wer den traurigen Zustand der Menschheit auf ephemere Regierungsfehler […] zurückführen will, statt auf diesen dunklen Urgrund alles Menschlichen, aus des bestgemeinten und wohlwollendsten. S. 53

Die Ansichten des Protagonisten ändern sich schlagartig, nachdem er in einem Traum mit einem Geist konfrontiert wird, der sich gerade in einem Zustand befindet, der am nächsten mit dem Begriff des Fegefeuers verglichen werden kann. Der Geist demonstriert, dass die menschliche Seele nach dem Tod nach ihren schlechten Taten geurteilt wird und widerlegt somit die Überzeugung Klumms, dass es keine ewige Wahrheit gibt. Das Erlebnis rüttelt das Gewissen des Protagonisten auf, der Traum hat ein therapeutisches Effekt: die unbewusste Schuld am Krieg und allen seinen negativen Folgen wird zum Bewusstsein gebracht.

„‚Lassen Sie den Mann laufen, sofortʻ, keuchte der Minister, ‚die ganze Affäre wird niedergeschlagen. Man muß das alles anders machen, die ganze Justiz, die ganze Welt, alles…Haben Sie verstanden?ʻ“ S. 74

Sinnangebote:

Der Text sieht im Krieg seiner pazifistischen Einstellung entsprechend keinen Sinn. Von dem Protagonisten wird der Krieg anfangs als notwendiges und natürliches Mittel im Kampf ums Dasein und um die Vergrößerung des Lebensraumes sowie als Triebkraft zum materiellen Fortschritt der Gesellschaft präsentiert.