Franta Zlin

Titel:
Franta Zlin

Autor:

Ernst Weiß (28. August 1882 in Brünn, Mähren - 15. Juni 1940 in Paris, Frankreich)
Politische Bedeutung:

Im Laufe des zweiten Weltkriegs antifaschistisch orientiert.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Im Ersten Weltkrieg als Regimentsarzt in Ungarn und Wolhynien tätig.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Die Handlungsorte (Polen, Wien) entsprechen teilweise den Orten, wo sich Weiß im Laufe des Krieges und nach dem krieg aufhielt. Häufiges Vorkommen jüdischer Figuren entspricht der jüdischen Herkunft des Autors und seinem Kampf gegen den Antisemitismus.

Bibliographie

Franta Zlin
Erscheinungsjahr, Auflage:
1920, 1. Auflage
Verlag, Ort:
Genossenschaftsverlag, Wien/Leipzig
Seitenzahl:
25 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Keine.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Heterodiegetischer Erzähler, Nullfokalisierung; Gliederung in 10 kleinere, mit Ziffern überschriebene Abschnitte.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Nein.

Raum:

Geographischer Raum:

Die Geschichte fängt mit einer Schlacht bei Rawaruska an, die für Österreich-Ungarn nicht erfolgreich verlaufen ist. Beim Rückzug von der Front gelangt der Protagonist nach Krakau, von da bewegt sich die Armee über Karpaten weiter nach Rumänien. Nach einer Schrapnell-Verletzung wird der Protagonist als Invalide zurück nach Wien versetzt, am Ende in Sankt Anton in Vorarlberg umgebracht.

Umfang des Spielraumes:

Ostfront, Hinterland.

Zeit:

Viele konkrete Zeitangaben, die übersichtlich zu den einzelnen Handlungsorten zugeordnet werden und eine gute Orientierung im Text ermöglichen. Handlung beginnt im Herbst 1914 mit der ersten Schlacht bei Rawaruska und endet mit dem Tod des Protagonisten im Hinterland am 30. Juli 1916.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Der offizielle Kriegsfeind wird im Text nicht thematisiert. Die als Kriegsgefangene in einer Gasanstalt zusammen mit dem Protagonist arbeitenden Russen werden auf keiner Weise bewertet, der Protagonist wird allerdings am Ende der Geschichte von einem dieser Russen wegen Geld erschlagen. Diese Tatsache wird aber in keinerlei Verbindung mit der Nationalität des Mörders gebracht, sondern auf seine Absicht, aus der österreichischen Gefangenschaft zu fliehen sowie auf die durch den Krieg verursachte allgemeine menschliche Brutalität und Geldgier zurückzugeführt.

Dort arbeiteten viele Russen, aber auch Wiener, junge und ältere. Franta arbeitete bei der dritten Destillation. Neben ihm war ein dicker, großer Russe, Wassily. Bis zum Sommer fühlte Franta sich gut und glücklich. [...] Die kriegsgefangenen Russen in der Gasanstalt verstanden es, durch Bestechungen freien Ausgang zu bekommen. Wassily schenkte oft dem Wachkorporal Zigaretten und bares Geld. Er hatte einige Worte Deutsch gelernt, besonders die Worte: ‚Haben Sie gerne?’ In einem Zivilgewand oder in einem österreichischen Militärmantel verließ er abends die Gasanstalt und nahm Franta zum Schnapshändler mit.“ (S. 179)

Freundbild:

Die im Text vorkommenden Soldaten italienischer, kroatischer, ungarischer sowie österreichischer Nationalität werden ohne Unterschiede als böswillig und schadenfroh dargestellt, was in keinerlei Verbindung mit ihrer Herkunft zu setzen ist. Ihre negativen Eigenschaften sind lediglich auf eine gewisse Verhärtung der zwischenmenschlichen Umgangs beim Militär und im Krieg zurückzuführen.

Zivilbevölkerung:

Der Text thematisiert v. a. die extreme Armut, die der Krieg im Hinterland verursacht und die Menschen zwingt, ihr gesamtes Vermögen zu verkaufen, um nicht zu verhungern. Die Not ist auch klar als die Ursache für sonst als unmoralisch abzulehnende Taten zu sehen, durch die sich die Menschen in ihrer elenden Situation einigermaßen zu helfen versuchen.

Der Mond schien ins Zimmer. Sie legten sich beide auf den Boden, jedes nur eine dünne Matratze unter sich. […] Dennoch schlief Mascha ein, getröstet durch den Gedanken, daß ihr Franta bei ihr war, oder bloß dadurch, daß sie doch noch lebte. […] Drei Wochen später mußte sie sich täglich vor dem Antritt des Dienstes bei der Herrschaft bei einer ‚Auskochereiʻ anstellen, wo sie Pferdegeselchtes und erfrorene süße Kartoffeln auf Anweisung des Wiener Magistrats umsonst bekam. Sie wanderte schon um drei Uhr morgens in die Gasse, andere warteten aber schon seit Mitternacht, saßen auf Stühlchen, hatten sich in haarige kotzen eingemummt, trugen Muffe aus Zeitungspapier um die Hände gerollt. Mascha nahm ihre Matratze mit und schlief am Donnerstag und Freitag jedesmal zwei Stunden am Boden vor der Auskocherei […] sonntags aber wurden ihr bei dem ungeheuren Ansturm fast die brüste abgestoßen, und ein zwölfjähriger Knabe rannte mit der Matratze davon […] während sie, eingekeilt, nicht aus der Menschenmasse hinaus konnte.“ S. 172.

Im Text treten außer Anderen mehrere jüdische Figuren auf, die insgesamt weder eindeutig positiv oder negativ dargestellt werden, sondern als sehr unterschiedlich, wodurch der Text den üblichen und gegen allen Juden ausgerichteten Antisemitismus angreift. So lässt eine arme Jüdin den Protagonisten, nachdem er ihre einzige Kuh stahl und schlachtete und sie selber danach in einem rauschhaften Lustanfall vergewaltigte, diesen in ihrem eigenen Bett übernachten. Dagegen weigern sich die immer noch in einem relativen Wohlstand lebenden jüdischen Herrschaften in Wien, bei denen Frantas Frau Mascha ihren Dienst macht, ihr einen Lohn auszuzahlen und erfüllen somit das typische Bild der jüdischen Geldgier.

Franta, der immer ein sanfter Mensch gewesen war konnte, konnte von dem Fleisch nichts essen. Er kehrte zu dem Kadaver zurück, der noch auf dem Felde mitten im Regen lag. Eine junge dicke Judenfrau kniete laut jammernd, unverständliches singend und kreischend neben dem Tier. Ihr Gesicht, weiß, oval, schwer von lichtem Fleisch, erregte Unheimliches in dem Mann. Er warf sich auf sie, hörte noch, wie der Kopf der Frau auf die knarrend einsinkenden Flanken des Tieres fiel. [...] als er nach kurzer Zeit erwachte, sah er sich auf die unter ihm zitternde Frau verströmend Tränen herabweinen, wie er sie früher nie geweint hatte. Er half der Frau das tote Tier an den Hörnern in ihr Haus hinüberschleifen […] Dann übernachtete er in dem hochgetürmten Bett ihres heißen Zimmers, während die Frau und ihr ausgemergelter Mann auf der Erde lagen, ein kleines Kind auf Decken zwischen sich.“ S. 162-163.

Am 6. Januar war die Verhandlung. Mascha sagte, sie hätte drei Monate Dienst bei der Herrschaft gemacht und ihr treu gedient, obwohl es Juden waren, aber im ganzen nicht mehr als siebzehn Kronen Lohn bekommen. Der Richter: ‚Deshalb durften sie doch nicht stehlen.ʻ ‚Ich wollte mich bezahlen. Ich bitte um Verzeihung.ʻ Der Richter fragte die Herrschaft: ‚Hat die Marie Zlin nicht mehr als siebzehn Kronen Lohn bekommen?ʻ Die Herrschaft: ‚Das müssen wir erst in den Büchern nachsehen.ʻ Der Richter: ‚Ach was, das werden sie schon wissen! Was für Bücher führen Sie denn? Bestehen Sie auf der Verurteilung?ʻ Die Herrschaft sagte: ‚Ja, sie muß bestraft werden, und die Bettüberzüge muß sie auch auslösen.ʻ Der Richter sagte: ‚Sie, Marie Zlin, können Sie die Bettüberzüge auslösen und der Familie den Schaden ersetzen?ʻ Mascha schwieg und sah ihren Mann an. Franta sagte: ‚Zahlen kann sie nichtʻ Mascha wurde zu sieben Tagen Arrest verurteilt, durfte aber noch nach Hause gehen.“ S. 174-175.

Intertextualität:
Einstellung zum Krieg:

Der Krieg wird nicht explizit bewertet, wird aber eindeutig als ein nicht nur materielle, sondern v. a. massive psychische und moralische Schaden hinterlassende Phänomen dargestellt.

Eine durch den Krieg verursachte Charakterveränderung demonstriert der Text an der geistigen Entwicklung des Textprotagonisten Franta Zlin. Dieser, ein einfacher Soldat, gerät gleich zum Anfang der Handlung in eine Krisensituation, da sich nach einer verlorener Schlacht sein General, dem Franta vertraut und den er „sehr liebgewonnen“ hatte, erschießt. Das Verschwinden dieser Ordnung gewährenden Figur ist der Auslöser Frantas ratlosen und chaotischen Zustands, in dem er später eine junge wehrlose Jüdin vergewaltigt. Die in einem rauschhaften und gewissermaßen bewusstlosen Zustand begangene Tat bereut Franta zwar sofort, wird dafür aber symbolisch bestraft, da an der Front bald danach sein Geschlecht durch einen Schrapnell zerfetzt wird. Dieses Ereignis sowie der nachfolgende Aufenthalt im Krankenhaus, wo er wegen seiner Verletzung von anderen Soldaten und von der Krankenschwester heftig verspottet wird, bewirken einen völligen Bruch in seinem Verhalten. Aus dem ursprünglich „sanften“ Menschen wird er, nachdem er als Invalide nach Hause versetzt wird, zu einem boshaften, völlig egoistischen wahnsinnigen Quäler der eigenen und ihn liebenden Ehefrau, die er bis zum Selbstmord treibt, damit sie über seine Verstümmelung nichts erfährt. Sein Tod durch die Hand eines Russen, der für ihn eine Erlösung aus seinem qualvollen Leben bedeutet, ist dann nur als ein weiterer Teil in einer Kette verbrecherischer Taten zu sehen, zu den die Menschen aufgrund ihrer Kriegserlebnisses verleitet werden.

 

Er schlief, als sie sich aber den Revolver in die Schläfe geschossen hatte […] Er kniete noch neben ihr, sah auf ihre schönen großen Brüste hinab und glänzte sie an mit seinen mörderischen Augen. […] Jetzt fühlte Franta sich errettet. […] Franta ging aus zu seiner Arbeit, voll Freude auf die Nacht. Endlich keine Angst mehr um das zerstörte Geschlecht. Keine Scham wegen der Verstümmelung.“ S. 177.

Der Russe floh nach dem Morde über die Schweizer Grenze. Franta Zlin wurde am 30. Juli des Jahres 1916, zwei Jahre nach Beginn des Weltkrieges, in Sankt Anton  in Vorarlberg als Unbekannter, von Unbekannten ermordet, begraben.“ S. 183.

Außer Frantas geistiger Entwicklung wird im ersten Teil der Geschichte der inhumane Umgang mit Tieren in der Kriegszeit angesprochen, dessen Thematisieren über der kritischen Einstellung des Autors zu diesen Geschehnissen zu interpretieren ist.

Sinnangebote: