Die grosse Phrase I.

Titel:
Die grosse Phrase I.

Autor:

Rudolf Jeremias Kreutz ( 2. Februar 1876 in Rozdalowitz, Böhmen - 3. September 1949 in Grundlsee, Österreich)
Politische Bedeutung:

Pazifistische Weltanschauung, die aufgrund der Kriegsgefangenschaft in Ostsibirien entstand.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Ja, ab 1894 Offizier der k.u.k. Armee;  zwischen 1914 und 1918  in russischer Gefangenschaft.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Ja; die Geschichte spielt sich an der Ostfront, wo Kreuz selber kämpfte und in sibirische Gefangenschaft geriet.

Bibliographie

Die grosse Phrase
Erscheinungsjahr, Auflage:
1919, 1. Auflage
Verlag, Ort:
Max Rascher Verlag, Zürich
Seitenzahl:
208 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Motto vom niederländischen Autor Multatuli (mit wirklichem Namen Eduard Douwes Dekker).

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Heterodiegetischer Erzähler, Nullfokalisierung. Der Roman besteht aus acht nummerierten Kapiteln, die einzelnen Kapitel werden weiter graphisch in kürzere Abschnitte geteilt. Der Ablauf der Handlung ist kohärent bis auf das siebte Kapitel, das von dem Lauf der Geschichte dadurch abweicht, dass der Ort des Geschehens sowie die Protagonisten wechseln und anstatt der Soldaten an der Ostfront die Freiwilligen in einem Spital in Wien in den Vordergrund treten. Im achten Kapitel kehrt die Handlung zurück an die Ostfront. Die erzählte Zeit bleibt im ganzen Roman chronologisch.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Nein.

Raum:

Geographischer Raum:

Die Handlung beginnt in Wien, geht mit einer Zugfahrt nach Russland weiter und sich bis auf das oben beschriebene Ortwechsel im Kapitel 8 und einer weiteren Zugfahrt nach Russland bis zum Ende der Geschichte an der Ostfront abspielt.

Umfang des Spielraumes:

Hinterland, Zugfahrt an die Front, Ostfront.

Zeit:

Die Handlung setzt am 1. August 1914 mit der allgemeinen Mobilisierung an und endet ohne präzisere Zeitangabe im Herbst 1914. Die zeitliche Orientierung im Text ist durch genaue Zeitangaben, später durch Erwähnung der Jahreszeit möglich.

Die Wahrnehmung der Zeit durch die Protagonisten wird sowie in anderen ähnlichen Texten beim Warten auf die feindliche (in diesem Fall russische) Offensive verlangsamt.

„Tage kamen, die wie durchtränkt waren von Erwartung. Stunden trippelten aufgeregt: Wir sind bereit, bereit, bereit.“ S. 200

Fremdenbilder:

Feindbild:

Die Einstellung der Österreicher zu den serbischen sowie russischen Soldaten wird als stark herabsetzend dargestellt. Die Serben werden von der österreichischen Armee als eine schwache Militärkraft bezeichnet, die leicht zu besiegen ist; angesprochen wird die schlechte Organisation der russischen Truppen.

Außerdem werden die Deutschen bzw. die Österreicher in ihrem stereotypischen Glauben daran dargestellt, dass die Russen im Unterschied zu ihren eigenen Nationen kulturell sowie rassisch unterentwickelt sind, weswegen sie auch den Krieg nicht gewinnen können.

 „Von Serbien gar nicht zu reden. Das erledigt sich von selbst. Ein ausgesogenes, korruptes, vom letzten Krieg geschwächtes Land. Einfach! Konzentrischer Einmarsch in drei Kolonnen. Eiserne Walze in das Herz Kragujevac. Belgrad fällt dann automatisch. Am 19. oder spätestens Ende August dürfte es Seiner Majestät zu Füssen gelegt werden. So meint auch der Chef. Was Russland betrifft,“ Zapperer raffte die Stirne in tiefe Falten, „so ist es allerdings gefährlicher. Darum müssen wir es niederrennen, ehe es operationsbereit ist. Es braucht vier Wochen zur Mobilisierung und kann uns somit im Augenblick höchstens zehn Korps entgegenstellen. (...)“ S. 19

 „Damals, als du den Krieg etwas unerhört Schönes und Starkes nanntest?“

„Ja, damals. Als Künstler bin ich an ihm irre geworden, als Soldat glaub‘ ich an ihn.“

„Warum als Soldat?“

„Weil ich mir nicht vorstellen kann, dass solche Halbtiere“ – er zeigte auf die Gefangenen – „und ihre Treiber uns besiegen können. Uns Kulturmenschen, uns Deutsche, uns Oesterreicher.“ S. 203

Freundbild:

Der Text schildert die allgemeine Kriegsbegeisterung in der ganzen Monarchie, auch in Wien wird der Krieg am Anfang in rauschhafter Stimmung begrüßt. Die Österreicher halten sich für ein starkes Volk, das ein erhabeneres Kriegsziel als die Gegner vor sich hat, da sie für das Vaterland kämpfen und deswegen unschlagbar zu sein glauben. Naiv schätzen sie, dass der Krieg nur ein paar Monate dauern wird und dass die Gegner schnell geschlagen werden können.

Die plötzliche Kriegsbegeisterung und Freude an einem Kampf für das Vaterland werden mit einer gewissen Distanz als schnell vergehende Phänomene beurteilt, die nach den ersten Niederlagen Österreichs verblassen. Die Überzeugung über den Sieg Österreichs wird jedoch von Manchen weiterhin vertreten und nicht in Frage gestellt.

Angezweifelt wird die allgemeine Kriegsbegeisterung durch einige der Protagonisten. Diese zweifeln v. a. daran, dass die einzelnen, bisher durch nationale Tendenzen geprägten Völker (Tschechen, Ruthenen, Polen u.a.) durch den gemeinsamen Krieg zu einem einheitlichen Vaterland  werden könnten.

 „Jetzt beginnt man in der Welt draussen zu staunen, und nachher wird man uns bewundern“.

„Du meinst, wenn wir den Krieg gewonnen haben werden?“

„Das ist doch keine Frage! Wir müssen ihn gewinnen. Völker, die sich im Reichsgedanken so finden, können nicht besiegt werden.“ S. 15

Leben und Tod gingen. Der Feind müsse erst wieder hinausgejagt werden. Hinaus müsse er!! Da nickten die Leute. So ist’s nicht gemeint mit dem Frieden, nickten sie. Und wenn’s denn auch über Weihnachten geht, hinaus müsse er. Und hatten eifrige Augen, die schmutzigen Kerle, und ballten die Fäuste.

In solchen Minuten war Zillner glücklich. Da durchlohte ihn wieder die heisse Frömmigkeit des Glaubens. Kein Zweifel schürfte in seiner Seele umher, kein Ahnen machte ihn elend. Wir werden doch siegen! S. 187

„O du, wie das wundervoll ist“, begann Kraft von neuem, „das grosse Begreifen, das Bekennen...! Das Besondere in der mühseligen Alltäglichkeit: Die Wollust am Vaterlande. Die Strassen voll und die Plätze, und aus schwarzen Menschenmassen hervor die Wacht am Rhein! Das heilige Müssen... Dann die Fahrt. Auf allen Stationen begeisterte Menschen. Ein Brausen, ein Singen...“

„Und wie war es bei uns in Böhmen?“ fragte Zillner.

„Herrlich auch da. Der Traum des Toten hat sich erfüllt. Gross-Oesterreich! Die wilden, die heiligen Kräfte des Krieges. Sie gehen ihren kleinen Egoismen nicht mehr nach, die Nationen und Natiönchen... und sogar die Tschechen rufen Hurra. Der Künstler Krieg greift an die Herzen, und auf einmal haben auch wir ein grosses Vaterland“.

„Glaubst du, dass die Tschechen, Polen und Ruthenen, die Magyaren und Italiener jetzt auf einmal Oesterreicher geworden sind, weil der Adhäsionstrieb der Angst sie zusammenzwingt? Oesterreich...glaubst du, dass es von heut ab für die andern das geworden ist, was es bisher nur für uns Deutsche war: ein heimatisches Bekenntniswort?“

„Du Zweifler!“ lachte der andere, „schau um dich und glaube.“ S. 13-14

Zivilbevölkerung:

Die Zivilbevölkerung tritt bloß im siebten Kapitel in den Vordergrund, das über das Universitätsspital in Wien berichtet, in dem sich freiwillig die Damen aus höherer Gesellschaft sammeln, um den Verletzten zu helfen. Diese werden in einem satirischen Ton dargestellt, was den Eindruck der Oberflächlichkeit dieser Kreisen sowie den krassen Unterschied zwischen dem Leiden der Soldaten und dem relativ bequem gebliebenen Leben der gesellschaftlichen Honoratioren unterstreichen soll. Die Frauen demonstrieren die Hilfe im Krankenhaus als ihre Pflicht, ihre Arbeit wirkt allerdings in den meisten Fällen als bloße Pose.

„‚Das Parfüm des Dunstkreises, in dem Sie zu atmen gewohnt sind. – Der Saal wird sich daran gewöhnen. Sie aber müssen Blut und Eiter riechen lernen, als wären’s Maiglöckchen und Rosen. Und Blut und Eiter, meine Damen, stinken, stinken bestialisch.ʻ

Eine leichte Unruhe zitterte über dreissig Hüten. […]

‚C’est plus fort que moi!ʻ stöhnte eine Gräfin, deren Unermüdlichkeit in der Veranstaltung von Wohltätigkeitsfesten standbekannt war. ‚Man tut schliesslich, was man kann, aber das..... nein, ich kann nicht!ʻ und flüchtete, den weissen Schleier ihres Tüchleins vor dem Stumpfnäschen, zum Saale hinaus. Ihr nach zehn andere.“ S. 141, 144

Auch an anderen Stellen des Textes wird die Zivilbevölkerung ausschließlich durch Frauen repräsentiert, die eine negative Einstellung zu dem Krieg einnehmen, weil sie sich um ihre Männer fürchten. Im Übrigen ist die Zivilbevölkerung nur marginal anwesend (z.B. als Masse an Bahnhöfen).

Welch ein Wunderbares leuchtete doch im bitteren Ernst dieser Stunde auf. „Allgemeine Mobilisierung“. Das hiess furchtbarste Wirklichkeit. Das bedeutete Abschied, Verkrüppelung, Tod. Ein Nimmerwiederkommen für viele. Das war Entgleisung des ganzen bürgerlichen Lebens! S. 12

„‚Ich halt’s nicht mehr aus,ʻ flüsterte in diesem Augenblick die Baronin Zillner zu. ‚Ich kann’s nicht mehr anhören, dieses ekelhaft selbstbewusste Geschwätz! Und dafür sollen Tausende bluten, damit diese verbildeten Affen ihre Kombinationen erproben können! Es ist zu entsetzlich.ʻ

[…] ‚No, und was halten denn Sie vom Krieg, verehrte Gnädigste?ʻ

‚Wenn Sie Wert darauf legenʻ – sie blickte ihn mit blitzenden Augen an – und dann sprudelte es aus ihr hervor, leidenschaftlich, haltlos, tränengepeitscht: ‚Ein Unsinn ist dieser Krieg, ein verbrecherischer Blödsinn. Tausende müssen sterben, Tausende zu Krüppeln werden. Und wozu...wozu? Damit ein paar Grenzen sich verschieben. Werden die Menschen dann glücklicher sein? Ich pfeif‘ auf die verschobenen Grenzen. Ich will meinen Mann haben. Und wenn ich den verlier‘, was hab‘ ich denn dann? Was...hab...ich...dann?ʻ Sie schluchzte auf.“ S. 20

Wo ist er jetzt? Die letzte Karte hatte sie vor einer Woche erhalten. Da schrieb er nur kurz, dass sie über die Grenze wären. Wie sie ihn sah! […]

Hinter einem Prunkbau mit Rossebändigern, Quadrigen und glatzköpfigen hellenischen Weisen stand ein Zeitungsjunge und brüllte: ‚Extraausgabe! Grosse Schlacht bei Lemberg! Extraausgabe!ʻ

‚Gib her, Kleiner.ʻ Frau Lisl riss dem Jungen den noch drucknassen Fetzen Papier aus der Hand. Lemberg. Das war ja seine Armee! S. 152-153

Intertextualität:

Keine.
 

Einstellung zum Krieg:

Eindeutig negativ. Die allgemeine Begeisterung, für Österreich-Ungarn zu kämpfen, wird als eine oberflächliche Pose präsentiert, die keinesfalls zum Sieg führen kann, der Begriff des Vaterlandes wird sowie in anderen Texten Kreutz´ als ein unehrliches Konstrukt entpuppt, das die Vertreter der Monarchie, Politiker und Offiziere, zu verbreiten versuchen. Nicht nur bei den Offizieren, sondern auch bei den einfachen Soldaten kommt die Kampfbegeisterung für dieses höhere Ziel mehrmals zum Ausdruck und das sogar mit gewisser Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit, die Figuren sind jedoch von dem proklamierten des Vaterlandes innerlich nicht überzeugt, was sich dadurch zeigt, dass ihre Begeisterung – falls sie je anwesend war – nach den ersten Kriegsschrecken rasch verfällt. Der Gedanke des Vaterlandes wird sich als eine gelernte Phrase präsentiert, worauf sich der Titel explizit bezieht.

Diese allgemeine Einstellung des Textes zum Krieg stimmt mit der des Protagonisten Zillner überein, der im Laufe der Geschehnisse an der Ehrlichkeit der Idee des Vaterlandes immer mehr zweifelt und sie schließlich als bloße Phrase einsieht. Zillner ist eher Beobachter, er widerstrebt äußerlich der allgemeinen Entwicklung nicht, hat dazu jedoch eine eigene, abwertende Meinung. Er nimmt das phrasenhafte Auftreten der menschlichen Masse durchaus wahr, die sich ständig anpasst. Sein Erkenntnisweg ist keinesfalls einfach für ihn, da er mit seinen dem allgemeinen proklamierten Glauben nicht entsprechenden Gedanken nicht klarkommen kann und versucht sie anfangs zu verdrängen und sie erst später als den richtigen Weg einsieht und sich dadurch von der von ihm tierisch bezeichneten Menschenmasse unterscheidet.

Hinaus mit euch, ihr wühlenden Gedanken! Ihr macht mich unglücklich. Umsonst. Die verfluchte Gabe, die ihm eigen war, durch alle Phrasenschleicher hindurch den Kern der Dinge zu ahnen, die erbarmungslose Nüchternheit der Wahrheit in knappe Worte zu fassen, dieses elende Vermögen begann die Gläubigkeit in ihm zu verdrängen. Das war das Peinigendste. Wie verwünschte er diesen faustischen Drang! Dummgläubig sein können, wie köstlich das sein müsste! Ein guter Feldsoldat sein können. Einfach vertrauensvoll. Ohne Fragen und ohne Qual. Wie beneidete er die, die es konnten! In ihm aber war ein Schürfen und Fragen und Bangen... S. 177 – 178

 „Die Masse! ... Welch unzähmbares, hoffnungsloses, unzuverlässiges Tier! Und doch war auch ihm jetzt eine Blutwelle zum Herzen gejagt. Als die „Wacht am Rhein“ erklang und die Menge gleichsam in sich aufsog, alle ihre Egoismen niederschlug und das unvernünftige Massentier zum Bekenntnis des Vaterlandes zwang […]

‚Der Teufel hole diese schwätzenden Kretins! Wir haben sie überall. Optimistische Dummköpfe.ʻ […]“ S. 11-12

Sinnangebote:

Die kriegsbegeisterten österreichischen Offiziere betrachten den Krieg als einen patriotischen Kampf für die Erhaltung und Ausweitung eigener Nation und ihrer Ehre.