Blahosklonný den (Ein gnadenvoller Tag)

Titel:
Blahosklonný den (Ein gnadenvoller Tag)

Autor:

Richard Weiner ( 6. November 1884 in Písek, Böhmen - 3. Januar 1937 in Prag, Böhmen)
Politische Bedeutung:
Perspektive:
Kriegserlebnis:

Ja; in den Jahren 1914-1915 kämpfte Weiner an der Serbischen Front, bis er 1915 Nervenzusammenbruch erlitt und demobilisiert wurde.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Wahrscheinlich ja, da sich die Erzählungen an der serbischen Front abspielen, wo der Autor selbst auch kämpfte.

Bibliographie

Netečný divák a jiné prózy; Lítice; Škleb (Der Gleichgültige Zuschauer und andere Prosa; Furie; Fratze)
Erscheinungsjahr, Auflage:
1996, 1. Auflage (1. Auflage der untersuchten Sammlung Lítice bereits 1916)
Verlag, Ort:
Torst, Prag
Seitenzahl:
471 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Editionsnotiz (S. 447-452); Nachwort über die expressionistische Prosatexte Weiners von Jarmila Mourková (S. 453-471)

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Heterodiegetischer Erzähler; Nullfokalisierung; Länge: 12 Seiten (S. 258-269)

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

-

Raum:

Geographischer Raum:

Die Handlung spielt sich in Serbien (heutiges Bosnien-Herzegowina) in der Nähe von Vranjevem  und im Dorf Nová Ves ab.

Umfang des Spielraumes:

Serbische Front.

Zeit:

Keine konkreten Zeitangaben; die Handlung spielt innerhalb von zwei Oktobertagen ab.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Der Gegner, der einen ausnahmsweise friedvollen Tag des beschriebenen Bataillons stört, wird auf keinerlei Weise konkretisiert, sondern als eine Anthropomorphisierung des Krieges, in Form von einer Furie, der antiken Rachegöttin, dargestellt, die der ganzen Erzählsammlung den Titel gaben und den Krieg als das Böse und die Wut an sich verkörpern, das jedoch nicht als ein äußeres, kultur-politisches oder wirtschaftliches Unheil über die Menschen kommt, sondern ihren Charakteren innewohnt. (Vgl. Pleva, M.: Odraz první světové války v dílech českých expresionistů Richard Weiner a Jan Weiss. Masarykova Univerzita, Brno, 2012, S. 21, online abrufbar unter: http://is.muni.cz/th/7916/pedf_c/?lang=en Letzter Zugriff am 21.1.2015)

Eine ähnlich allgemeine Funktion erfüllt auch das abgebildete serbische Dorf Nová Ves, das das das österreichische Bataillon zur Übernachtung ausnutzt. Die Bewohner des Dorfes bestehen ausschließlich von Kindern (von Neugeborenen bis zu 15 Jahre alt), die von ihren vor der Österreichischen Armee geflohenen Eltern zurückgelassen wurden und die sich im Laufe des beschriebenen Tages mit den österreichischen Soldaten befreunden. Der Text schildert keine Rivalität zwischen der verfeindeten serbischen und österreichischen Nation, sondern will vielmehr den allgemeinen moralischen und emotionalen Verfall der Menschen aufzeigen erstens im Bild der Eltern, die die eigenen Kinder ihrem Schicksal überlassen und zweitens in der gegenseitigen emotionalen Abkühlung sowohl der Kinder als auch der Soldaten am nächsten Morgen, wo der erste entfernte Schuss fällt, der nach dem „gnadenvollen Tag“ wieder den Krieg ankündigt.

Přišel. – Houkla dělová rána - - - Jak daleko? Šest kilometrů? Snad blíž. Tak blízký sráz. Ale vpravdě nešlo o to, že blahoslavenému dni hrozí nebezpečí. Což? – byť byl od blaživého klamu k drtivému skutečnu jen pouhý krok; klam vládne, dokud trvá. […] Nová Ves nejen se sesune tak neslyšně, tak hebce, jako domek z karet; ne, ani vzpomínky po ní nezbude. A těm zrazeným vojákům […] ani už není líto, že se s dětmi nerozloučili a že osud kterési bezejmenné hvězdy je jim bližší než osud těchto dětí, stojících pomračně před chalupami; zapomněly včerejška i ony a také jim ho není líto. Drcen podpatkem blahosklonný den. Licoměrná lítice se o to zasloužila, ale je tak smutno, že nad zdařilým dílem ani ona nejásá. Ba ne! Nad dětmi, jimž vzala lítost, nad vojáky, jimž vzala lítost, ona jediná cítí. A je jí krušno.“ S. 269

(„Er kam. – Ein Kanonenschuss heulte - - - Wie weit? Sechs Kilometer? Vielleicht näher. So nah der Absturz. In Wirklichkeit ging es jedoch nicht darum, dass der selige Tag in Gefahr geriet. Oder? – auch wenn vom beseligenden Wahn zu vernichtenden Wirklichkeit bloß ein Schritt führte; der Wahn herrscht, so lange er währt. […] Nová Ves stürzt so geräuschlos, so sacht ein, wie ein Kartenhaus; nein, nicht mal eine Erinnerung wird verbleiben. Und den verratenen Soldaten […] tut es nicht mal leid, dass sie von den Kindern keinen Abschied nahmen und dass das Schicksal irgendeines namenlosen Sterns ihnen näher ist als Schicksal dieser Kinder, die finster vor den Bauernhäuser stehen; auch sie vergaßen Gestern und es tut ihnen nicht leid. Mit dem Schuhabsatz wird der gnadenvolle Tag zerdrückt. Die heimtückische Furie machte sich darum verdient, aber so traurig ist es jetzt, dass nicht mal sie über das gelungene Werk jubelt. Ach nein! Über den Kindern, die sie des Mitgefühls beraubte, über den Soldaten, die sie des Mitgefühls beraubte, sie einzig fühlt. Und es geht ihr übel.“ S. 269)

Freundbild:

Das abgebildete Bataillon besteht, wie dem Namen zu entnehmen ist, aus tschechischen Soldaten und deutschen Offizieren, zwischen denen friedliche und beinahe unmilitärische Beziehungen herrschen. Weder die eine oder andere Nationalität wird auf irgendeine Weise charakterisiert.

Zivilbevölkerung:

Die Zivilbevölkerung tritt im Text in den Personen der das Dorf bewohnenden Kinder auf, die am Anfang misstrauisch, später durchaus freundlich und vollkommen selbstständig beschrieben werden, nach dem Wiederausbruch des Krieges allerdings durch die allgemeine Resignation und Kälte geprägt werdend.

Die beschriebene serbische Landschaft sowie die Symbole des alltäglichen Lebens und der Gemeinschaft (auch wenn es sich nur um zertrümmerte Städte- oder Dorfreste oder ihre Bestandteile handelt) ähneln stark der Heimat der auftretenden österreichischen Soldaten und werden deswegen von diesen sehr positiv wahrgenommen, da sie an ihr alltägliches Leben vor dem Krieg erinnert werden und für ein Moment die eigene momentane Lage vergessen. Dieser innere Frieden, dessen Eindruck durch die äußeren Umstände des sonnigen, ruhigen Tages noch verstärkt wird, zeigt sich allerdings am Ende des Textes als bloß kurzzeitig bzw. scheinbar, da er den Kontrast zu dem neuausbrechenden Kampf vergrößert.

Intertextualität:

-

Einstellung zum Krieg:

Eindeutig negativ. Der Krieg wird, wie bereits der Titel der Sammlung besagt, mit den antiken Furien verglichen und als eine Verkörperung des Bösen dargestellt, das das Handeln des moralisch und emotional verfallenen Menschen bestimmt.

Der ruhige Tag, der das Thema des Textes bildet, erweckt in den Soldaten nach einer langen Zeit im Krieg eine intensive, beinahe ekstatische Freude am Leben und dem aktuellen Augenblick, der sie auf einen nahen Frieden hoffen lässt, wobei jedoch die mögliche Gefahr eines feindlichen Angriffs sowie das Bewusstsein des Krieges die ganze Zeit unterschwellig präsent bleibt.

Die Führung des Krieges wird außerdem wie in vielen gegen dem Krieg ausgerichteten Texten mit einem Spiel verglichen, dessen Akteure Soldaten, Regimente und Armee sind, die allerdings nur von wenigen Führern regiert werden.

„Tam a onde vynoří se v dálce kolona jiného vojska, sune se mezi poli, teče po cetách, kolony, aktéři jedné jedině hry, jejíž režii chápe jen několik zasvěcenců.“

(„Hie und dort taucht in der Ferne eine Kolonne einer anderen Armee auf, schiebt sich durch die Felder, fließt über die Wege, Kolonnen, Akteure eines einzigen Spiels, dessen Regie nur einige Eingeweihte kennen.“ S. 260)

Sinnangebote:

Im Grunde keine; im Text kommt lediglich der Gedanke zum Ausdruck, dass das intensive Erleben des vollkommen harmonischen Tages ohne die vorherigen Kriegserfahrungen nicht möglich wäre.