Der vereitelte Weltuntergang

Titel:
Der vereitelte Weltuntergang

Autor:

Rudolf Jeremias Kreutz ( 2. Februar 1876 in Rozdalowitz, Böhmen - 3. September 1949 in Grundlsee, Österreich)
Politische Bedeutung:

Pazifistische Weltanschauung, die aufgrund der Kriegsgefangenschaft in Ostsibirien entstand.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Ja, ab 1894 Offizier der k.u.k. Armee;  zwischen 1914 und 1918  in russischer Gefangenschaft.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Nein.

Bibliographie

Der vereitelte Weltuntergang
Erscheinungsjahr, Auflage:
1919, 1. Auflage
Verlag, Ort:
Ed. Strache Verlag, Wien/Leipzig
Seitenzahl:
225 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Am Anfang der Sammlung Widmung an Kreutz’ Ehefrau Heddy.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Heterodiegetischer Erzähler, variable interne Fokalisierung.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Nein.

Raum:

Geographischer Raum:

Himmel und Erde. Die Erzählung spielt sich überwiegend im Himmel ab, wo Gott mit Hilfe Jesu, des Heiligen Geistes sowie anderer Himmel-Bewohner über die Austilgung der moralisch verdorbenen Menschen nachdenkt, die gegeneinander einen vernichtenden Krieg führen. Nach der Entscheidung Gottes, die letzte Warnung für die Menschheit auf den Mond zu projizieren, werden die Reaktionen aller an dem Krieg beteiligten Länder dargestellt.

Umfang des Spielraumes:

Himmel, Erde.

Zeit:

Die Handlung der Geschichte spielt sich im Laufe von weniger Wochen während des Weltkriegs ab; keine genauere Zeitangabe.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Der Text liefert eine satirische Darstellung aller an dem Krieg beteiligten Nationen, derer Verhalten durch die jeweiligen Nationalstereotypen gekennzeichnet wird. So werden dementsprechend die Österreichischen Soldaten als blind gehorsam und ihre militärische Leitung als unsinnige Befehle ausgebend abgebildet, die Russen als nicht besonders intelligente Alkoholiker, die Vereinigten Staaten als eine sich rein opportunistisch verhaltende, kapitalistische Nation geschildert, für die der finanzielle Gewinn im Vordergrund ihrer Bemühungen steht. Den Türken wird Untätigkeit zugeschrieben. Die Deutschen halten sich selber traditionell für ein kulturell und moralisch erhabenes Volk, das besser sei als alle anderen Nationen.

Es trat Stille im Thronsaal ein. Der liebe Gott spielte mit seinem Silberbart, Petrus war eingeknickt. Der Sohn röchelte leise. Die Erzendgel starrten auf den heiligen Geist. ‚Ich habe eine Idee,ʻ rief dieser plötzlich. ‚Allerhöchste Warnung auf die Vollmondscheibe projizieren. Scharfe Fassung. Drei Tage affichiert lassen. In einer Weltsprache natürlich. Lateinisch zum Beispiel, lateinisch.ʻ ‚Na, dös versteh´n heut´ kaum noch dö Mittelschulprofessoren. Dö Hauptschuldigen hingegen, dö Börseaner und Jobber, haben ja ka Ahnung von dera Sprach´! I bin für´s Deutsche,ʻ entschied der liebe Gott. […] ‚ich, der HERR, befehle: Dreimal vierundzwanzig Stunden lang hat auf einem Vollmond diese Inschrift zu erscheinen: ‚Mißleitete Herde! Aufhören!!! Sonst vertilge ich euch. Der Ewige.ʻ Drei Ausrufungszeichen nach dem ‚Aufhörenʻ, verstanden?ʻ“ S. 11.

 

An den Fronten sahen die Schützengrabenmänner die Erscheinung sofort, die in den Stäben in der zweiten Nacht. Auf der weiß leuchtenden Mondscheibe die blutroten Worte… Der österreichische Major Nowotny visierte das Phänomen mit dem Zeiß an: ‚Bleeder Witz von einer Beleichtungsabteilung. Strafbar vor der Eisernen Krone, die was für mich an der Tour is. Zersetzend!ʻ Und er verbot seinem Marschregiment in markigen Worten, in den Mond zu schauen. Bei den Russen drüben buchstabierte ein aufgeweckter Generalstäbler mit internationaler Bildung lange an dem Rätsel. Dann sagte er, das sei der Fingerzeig des russischen Herrgotts. Die Inschrift wende sich gegen die deutschen Schweine und darum spreche Gott deutsch. Hierauf soff der Hauptmann Rum ohne Tschai zur Belebung seiner Findigkeit und verfaßte eine diesbezügliche Proklamation: ‚Brüder! Bürgersoldaten! Der Gott des freien Rußland selbst wünscht euch den vollen, endgültigen Sieg. Er hat es auf den Mond geschrieben, daß er die deutschen Schweine vertilgen will. Sei einig, einig, einig!ʻ Dann betrank er sich aus Begeisterung. In den deutschen Linien trat sofort die radiotelegraphisch übersandte Zirkulardepesche Hindenburgs in Kraft und Gültigkeit: ‚Wir hören auf, aber erst müssen die andern knülle werden. Hurra!ʻ In Frankreich, Italien und England überwog die offizielle Meinung, daß sich der französische, italienische, beziehungsweise englische Gott des verhaßten Hunnenidioms bediene, um kundzuthun, daß er nur die teutonischen Verbrecher mit der Vertilgung meine. In Deutschland bewies H. St. Chamberlain in scharfsinnigen Deduktion, daß nunmehr kein Zweifel obwalte, wo die Sympathien des Allerhalters zu suchen seien. Gott bediene sich der deutschen Sprache, weil er die ethische, ethnische, kulturelle, zivilisatorische, soziale und anthropologische Überlegenheit des germanischen Edelvolke anerkenne.“ S. 12-13

„Die Vereinigten Staaten kabelten ihr volles Desinteressement an der neuen Komplikation nach Europa, da sie das Schwert lediglich für den Frieden gezogen und somit ganz im Sinne des Schöpfers gehandelt hätten. Gleichzeitig ging ein lüsternes Zittern durch die Schmeerbäuche ihrer Plutokratie und der New-Yorker Stahltrust gründete für den Eventualfall die Aktiengesellschaft ‚Chaos‘ zur Exploitierung der Überreste der Alten Welt. Kapital: Zweihundert Milliarden.“ S. 14

 

In einer höchst satirischen Weise wird auch der gegenseitige Hass zwischen den einzelnen Nationen beschrieben, für dessen Propaganda mit den üblichsten rassischen sowie anderen kulturellen Vorurteilen argumentiert wird. Als maßgebliche Verfasser dieser Argumentationsweise kommen dabei v. a. höhere wissenschaftliche und kirchliche Institutionen zum Ansatz.

Keine der beteiligten Nationen wird im Vergleich mit den anderen positiv hervorgehoben, die Intention des Textes ist es vielmehr zu zeigen, dass sich alle Völker gleich opportunistisch und egoistisch verhalten. So bewirkt die Warnung Gottes, die auf dem Mond in deutscher Sprache erscheint und das Ende des Krieges befiehlt, weder einen Rückzug der Deutschen noch der anderen Länder aus dem Krieg. Die einzelnen Staaten interpretieren die Warnung stattdessen jeweils zu eigenen Gunsten, was ihre Aggressivität gegen die Anderen noch mehr steigern lässt. Eine etwas eigenartige Stellung unter den Völkern nimmt Polen ein. Ein „Pollak“ ist es am Ende der Geschichte, der die Erde von dem machtlosen Gott pachtet und somit zum neuen Herrscher der Menschheit wird. Das ist wahrscheinlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass Polen zur Zeit der Textentstehung kein existierender Staat war und somit den Anschein eines in Sachen Nationalismus, Patriotismus und Macht anspruchslosen Volkes tragen konnte. Diese Anspruchslosigkeit wird also durch den Text in ihr genaues Gegenteil verwandelt, indem der Pole als ein Abwartender dargestellt wird, der im günstigen Augenblick die Macht über die ganze Welt ergreift. Die Darstellung Polens ist dabei nicht negativer als die der anderen Nationen zu interpretieren, dem Text geht es vielmehr darum, die moralische Verdorbenheit der ganzen Menschheit aufzuzeigen.

Freundbild:

Siehe Feindbild.

Zivilbevölkerung:

Die Großstadtgesellschaft wird in ihrem Verhalten, das sich nach dem Erscheinen der die Apokalypse verkündenden Warnung Gottes ins Rauschhafte und völlig Animalische steigert, kritisch präsentiert und in Kontrast mit dem Benehmen armer Arbeiter und Dorfbewohner gestellt, die die Warnung entweder gleichgültig oder negativ bzw. gar nicht wahrnehmen und in ihrem Elend als Opfer der modernen Zeit geschildert werden.

„Nur das gebeugte Volk des Hinterlandes, die in die Maschine gepreßten Sklaven der Kleindörfer und Fabriken, sie lasen ihn ohne Freude. Und viele sahen auch die Inschrift auf dem Monde nicht. Diese zerbrochenen Krüppel und Greise, diese Frauen, bange von Tag zu Tag …. alle diese verzagten Gottverlorenen, sie waren seit Jahren gewöhnt, zur Erde zu starren, weil der Himmel grausam blieb. Nicht Mond und Sterne sahen sie mehr und die Sonne tat ihren Augen weh.

In den Großstädten aber gellte ein hämisches Lachen aus den Bordellen und Weinhäusern. Die prallgefüllten Kabaretts brachten Chansons über den Bluff des alten Herrn, die Kinos flimmerten den von Gustav Meyrink im schwersten Morphiumrausch gedichteten Monstrefilm ‚Das jüngste Fleischgericht‘, worin tausend weibliche Akte mit ebensovielen männlichen das letzte Zucken entfesselter Brunst lebensecht mimten. ‚Weltuntergang!‘ schrie die Mode […] ‚Unjungfrauen, Witwen, rüstet eich und liebt! Nützet die Zeit….. Der Orgasmus sog mit roten, feuchten Lefzen an allem Mark. Irrsinnig kreischte die Gier aus Gebüschen und Gärten.. verschwiegenen Winkeln. […] In diesen Tagen wurden mehr Mütter, als selbst in der fruchtbaren Zeit der Hindenburgsiege. […] Der Generaldurchbruch auf allen Fronten mit vollem Erfolg für jede Kampfseite – der Weltrekord an Leichen: Unüberbietbar dank der genialen Technik – neunzig Prozent der Kombattanten! Das war die Sensation des Tages. Urch den Moderdunst der Zivilisation wirbelte auf opalisierenden Fledermausschwingen die grinsende Verzweiflung.“ S. 16

Intertextualität:

Mehrere Erwähnungen bekannter Kulturpersönlichkeiten der Zeit, die den breiten kulturellen Überblick des Autors belegen. So z. B. satirische Anspielungen an das Schaffen des berühmten deutschen Journalisten Maximilian Harden oder an die okkulten Texte Gustav Meyrinks (Siehe Zivilbevölkerung).

Maximilian Harden brach als immer originellster Publizist in seiner ‚Zukunftʻ eine Lanze für die kosmische Unparteilichkeit des Schöpfers, beschwor den Geist Bismarkcs und warnte in kautig kollernden Perioden vor Überhebung. Doch wurde er rechtzeitig konfisziert.“ S. 13-14. 

Einstellung zum Krieg:

Eindeutig negativ. Der Krieg wird als Folge des moralischen Verfalls und der Enthumanisierung der Gesellschaft dargestellt. Eine heftige Kritik betrifft neben den säkularen als auch kirchlichen Institutionen auch den Gottesbegriff, dessen sich die einzelnen Nationen bedienen, da sie den Willen Gottes immer jeweils zu eigenen Gunsten interpretieren und somit den Verfall der christlichen Werte präsentieren.

Kritisch ist allerdings auch die Darstellung Gottes sowie anderer religiösen Instanzen (Jesus, Heiliger Geist, antike Gottheiten.) selbst, die mit manchen negativen menschlichen Eigenschaften ausgestattet werden. Das Geschehen im Himmel wird wie der Rest des Textes in einem satirischen Ton abgebildet und in vielen Aspekten dem Funktionieren der modernen Gesellschaft gleichgestellt, wodurch Gott und die Heilige Dreifaltigkeit als Inbegriff der Allwissenheit, Allmächtigkeit und Unfehlbarkeit angezweifelt werden.

 „Das Raubzeug von Hurern, Schwindlern und Dummköpfen, so auf der Erde wohnet, ist ob seiner Missetaten meinen Augen ein Dorn und meinem Herzen ein Ekel geworden. Denn ich bin der HERR, der das Gute will von Ewigkeit zu Ewigkeit. Sie aber sind zu denkenden Bestien entartet und nennen das Zivilisation. Sie aber haben die Lüge in gleißenden Prunk gehüllt und nennen das Kultur. Sie aber besudeln in meinem Namen ihre Mietwohnung und nennen das heilige Recht. Und sie lassen das Gute und sind verdorben zum Guten, so ich in jedes Lebendige gepflanzt von Anbeginn. Unverbesserlich sind sie und unzugänglich, vom Bösen umstrickt, von Verbrechern verführtʻ - der Sohn seufzte im Halbschlaf -. ‚Und darum will ich sie hinwegtilgen von der Erde, daß ihr Geschlecht vergehe und ihr Samen im Feuer verbrenne und jegliche Spur. Und aber an ihre Stelle will ich unschuldige Pflanzen setzen und harmlos-fröhliche Tiere, mir zum Wohlgefallen. So wahr ich mir helfe […] ‚Dös war dienstlich,ʻ sagte der liebe Gott und nahm die Strahlenkrone ab, ‚jetzt könna ma privat über dö Sach´ red´n.“ S. 6-7

‚Auf mei´ Warnung dö ausg´schamten Frechheiten, dö ausg´schamten! Wann s´ vertilgt waaren, kunnt ma jetzt schön Blumen begießen und liabe Viecherln züchten. Und i hätt´ mei´ Freud´. Aber so lachen s´ mi aus, do Verbrecher, dö….ʻ […] ‚D´ Erden is von zwabeinigen Ung´ziefer versaut. Ausschwefeln! D´ Axen ausdrah´n! Mit Wasser nachspüln´!ʻ befahl der liebe Gott. Der Oberengel kraute den antiken Wollschädel: ‚Wird sich schwer halten, domine. Die Titanen -ʻ […] Sie haben sich organisiert, das i das periculum. Erst heute waren die Vorarbeiter, die Zyklopen bei mir […] Sie fühlen sich in ihrer Seligkeit verkürzt. Sie fordern Streichung aller Luxusbahnen, Löschung der bloßen Putzsterne […] Ich bin machtlos. Sie sind organisiert, domine. Es ist der Zug der neuen Ewigkeit.ʻ Der liebe Gott schrie mit aufgestülpter Strahlenkrone: ‚Bin ich der HERR der Welt oder nicht?!ʻ ‚So lange sie wollen, domine…. Aber nicht länger,ʻ der Oberengel grinste breit.“ S. 18-19

Sinnangebote:

Keine.