Das Jahr im Dijon

Titel:
Das Jahr im Dijon

Autor:

Karl Adolf Mayer ( 7. Juni 1889 in Mähren - 3. November 1957 in Nicht bekannt.)
Politische Bedeutung:

Nicht bekannt.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Nicht bekannt.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Nicht bekannt.

Bibliographie

Das Jahr in Dijon.
Erscheinungsjahr, Auflage:
1935, 1. Auflage
Verlag, Ort:
Verlag von Moritz Schauenburg, Lahr
Seitenzahl:
130 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Keine.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Heterodiegetischer Erzähler, Nullfokalisierung; der Roman besteht aus zwei ungleich langen Teilen, die durch den Ausbruch des ersten Weltkriegs abgegrenzt sind. Der erste Teil (vor dem Kriegsanfang) ist wesentlich länger als der zweite Teil. Die Teile werden graphisch in weitere kleinere Abschnitte gegliedert. Eine Passage des zweiten Teils besteht aus Briefen einer der Hauptfiguren – der Französin Jeanne – an den Protagonisten Gerhard, in diesem Abschnitt also Ich-Erzählerin und feste interne Fokalisierung.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Nein.

Raum:

Geographischer Raum:

Die Geschichte spielt sich überwiegend in der französischen Stadt Dijon ab, außerdem in Wien und nach dem Krieg in Graz. Die Reise der Protagonisten durch Deutschland und die Schweiz nach Dijon 1913 (zu Beginn des Romans).

Umfang des Spielraumes:

Welt vor dem ersten Weltkrieg/ Hinterland/Welt nach dem Weltkrieg.

Zeit:

Als Anfang der Handlung wird durch eine genaue Angabe September 1913 gekennzeichnet, der Endzeitpunkt der Geschichte wird zwar nicht explizit genannt, lässt sich aber als September des Jahres 1919 bestimmen. Auch weiter kommen häufiger genaue Zeitangaben vor, sodass der zeitliche Ablauf relativ klar bleibt. Darüber hinaus lässt sich die Zeit auch mit Hilfe vom Jahreszeitenwechsel und dem Anfang und Ende des ersten Weltkriegs bestimmen.

Gerhard Prankh stand an einem kühlen Septembermorgen des Jahres 1913 am Bug ...“ (S.5)

 „Als er die Treppe emporstieg, erinnerte er sich – und er erschreckte fast -, daß sich eben heute der Tag seiner ersten Ankunft zum sechsten Male jährte.“ (S. 118)

 „An einem milden Oktobertage des Jahres 1916 saß in einem Wiener Spital ein junger Offizier an dem weiß gestrichenen Tischchen vor einem leeren Bogen Papier.“ (S. 93)

 „Anfangs war er unter Bäumen dahingeschritten, deren Laub in allen Brandfarben des Herbstes geleuchtet hatte, dann waren sie still erloschen; die Blätter raschelten auf den Wegen. Durch gelichtete Äste blauten ferne Höhen. Dann kam Schnee. An den frostklaren Tagen schimmerten die Zweiglein bereift und steuerten im leisen Wind feines Silber durch die harsche Luft. Und dann kam von denselben Zweiglein, die nun feucht und dunkel in einen wolkendurchwanderten Himmel starrten, der erste helle Frühlingsruf der Finken oder der sehnsüchtige Liebespfiff der Spechtmeise.“ (S.96)

Der erste Teil des Romans verläuft zeitlich kontinuierlich und synchron, widmet sich der Zeit Jahr von September 1913 bis August 1914. Komplizierter wird die zeitliche Orientierung im zweiten Teil, der Zeitverlauf wird im Vergleich zum ersten Teil unkontinuierlicher, die Reihenfolge der einzelnen Ereignisse ist nicht mehr linear, eine markantere Analepse stellt der Sprung in die Vergangenheit durch die Briefe von Jeanne vor; einige Jahre (wie z. B. fast der ganze Krieg) werden ausgelassen.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Der größte Teil des Romans spielt sich in Frankreich vor dem Krieg ab, weswegen im Text ausführlich über Franzosen und ihren Charakter berichtet wird. Zwischen dem Protagonisten Gerhard und seinen französischen Bekannten kommt es häufig zu  Diskussionen über die Charakterunterschiede zwischen dem deutschen und französischen Volk und den Naturen der Beiden sowie über die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, die jeden einzelnen in seinem Handeln stark beeinflussen und ihm von anderen Menschen unterscheiden soll. Es handelt sich dabei um einen friedlichen Meinungsaustausch, der noch vor dem Weltkrieg stattfindet und durch keinerlei der später im Krieg üblichen gegenseitig feindlichen Einstellungen gekennzeichnet ist.

...ja, einmal bat sie ihn sogar, ihr bei einem Aufsatz zu helfen. […]

Am Abend brachte er ihr die fertige Arbeit. Sie las sie aufmerksam durch, dann schüttelte sie bedenklich den Kopf: ,Sie denken so fremd. Wenn ich die Aufgabe so schreibe, weiß jeder, daß sie nicht von mir ist.‘

‚Ist das ein Lob oder ein Tadel?‘

,Keines von beiden. Was Sie da geschrieben haben, ist recht hübsch, aber es ist...wie soll ich sagen...‘

‚Zu deutsch‘, vollendete er.

Sie sah ihn an. ,Vielleicht.‘“ (S.27)

 

,Ich traue mich jetzt gar nicht mehr,‘ meinte Gerhard, ,das dünne Büchlein, das ich für Sie mitgebracht habe, hereinzuholen.‘

Es war ein schöner Band, ‚Das deutche Landʻ betitelt […].

Gravey blätterte bedächtig darin. ,Wundervolle Bilder! Das hier mit dem wolkendurchwanderten Himmel ist wie ein photographiertes Gedicht von Eichendorf. Nur am Titel des Buches stoße ich mich einigermaßen. Ich leugne nämlich, daß es ein deutsches Land gibt, ebensowenig wie ein französisches übrigens. Diese weinrebenbepflanzten Lehnen hier könnten doch gerade so gut bei uns sein. […]“ (S. 47)

Freundbild:

Der Text thematisiert an manchen Stellen die Frage der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, die Wichtigkeit derselben sowie ihre Auswirkungen. Gerhard, der aus dem Sudetenland stammende Protagonist, lebt und studiert in Wien und kommt für ein Jahr nach Dijon, um dort zu studieren. Trotz seines Wiener Wohnsitzes fühlt er sich der deutschen, nicht der österreichischen Nation zugehörig und zeigt deutliche Sympathien zum Deutschen Reich und dessen Kultur, das in seinen Augen geschichtlich sowie sprachlich eine homogene einheitliche Nation und somit eine mögliche Heimat bildet, während das Österreich-Ungarn ein künstliches, aus heterogenen und teilweise verfeindeten Nationalitäten bestehende Staatsgebilde darstellt.

Man sprach von Volk und Vaterland, ausgehend, wie so oft, von den österreichischen Verhältnissen. Gerhard hatte es abgelehnt, das Gebiet der Monarchie, das so vielen und einander feindlich gesinnten Völkern Heimat war, als sein eigentliches Vaterland anzuerkennen, hatte erklärt, daß ihm nicht die durch Heirat, Eroberung und Erbschaft zufällig zu einem Staatengebilde zusammengefügten Ländereien das Vaterland bedeuten könnten, sondern vielmehr jene Landschaften, die von dem Volke, das dieselbe Sprache rede, bewohnt würden, so daß er also neben dem deutschen Österreich wohl Schwaben und Bayern, aber niemals Galizien oder das italienische Küstenland als Heimat empfände.“ (S. 75 – 76)

Interessanterweise sieht der französische Freund des Protagonisten das Deutsche Reich in einer völlig gegensätzlichen Art und Weise und zwar als ein Land, das durch seine geographische sowie kulturelle Position in der Mitte Europas, wo es schon immer zur Kreuzung unterschiedlicher Nachbarkulturen kam, kein wirklich einheitliches Land darstellen kann.

„ ,Sie leugnen also die deutsche Eigenart?‘

,Ich leugne sie nicht, aber ich behaupte, daß sie anders ist, als ihr sie sehen wollt. (...) Französische Künstler haben fast immer nur im Bereiche ihres französischen Wesens Mustergültiges geleistet, die deutschen im Bereiche des ihren sehr selten. Ihr seid ein Volk, zwischen Abend und Morgen gestellt. (...) Ihr seid zerrissen im tiefsten Herzen. Das ist euer Schicksal, eure Bedeutung, vielleicht auch euer Fluch. Und ihr seid zerrissen auch als Volk, ihr, die ihr in der Mitte Europas gelegen, noch niemals imstande waren, einen einheitlichen Staat zu bilden. (...)‘“ (S. 50)

 

Nur indirekt wird die Beziehung der Sudetendeutschen zu den Tschechen angesprochen, die keineswegs als ein harmonisches Zusammenleben verläuft, sondern vielmehr einem gegenseitigen Kampf um die eigene Identität gleicht.

,Auf die Gefahr hin, Sie wieder zu kränken, bitte ich Sie, mir eine Frage zu gestatten.‘ […] ,Die Frage, warum Sie sich über all das so aufregen, Sie, der Sie ja selbst kein Bürger Deutschlands sind, sondern Österreicher.‘

,Sie machen feine Unterschiede. Gewiß, Staatsbürger des Deutschen Reiches bin ich nicht, was mich aber nicht hindert, Deutscher zu sein. Aber wir Deutschen Österreichs ringen, von fremdem Volk umgeben, hart genug um unser deutsches Wesen. (...) Was kennt man denn in Frankreich von der deutschen Kultur? (...) Sehen Sie sich doch den Deutschen an, wie er durch den französischen Roman stapft: hinterlistig, aufgeblasen, brutal, ungebildet. So sieht man uns.‘“ (S. 58-59)

 

Nach dem Ausbruch des Weltkrieges ändert sich die Einstellung des Protagonisten. Durch den gemeinsamen Schicksal, der die österreichischen Männer in den Krieg führt, fängt Gerhard an sich mit diesen innerlich verbunden zu fühlen und empfindet sich selber als ein Teil des österreichischen Volkes.

Todmüde und dennoch seltsam wach, sah Gerhard die klobigen Bauerngestalten, die aus fernen, friedlichen Gehöften hierhergekommen waren, hassend stehen oder von Weib und Kind, Vater und Mutter unbeholfen wortlosen Abschied nehmen, und mit einem Male wallte es heiß und schmerzlich und dennoch beglückend in ihm auf: ja, er gehörte zu ihnen, die da mit schweren Bauernfäusten schon nach den Wagentüren langten, und sie gehörten zu ihm. Und neben diesem jäh erwachten Wissen von einer tiefen, schicksalschweren Verbundenheit war in ihm eine fast demütige Bereitschaft, all das Schwere, das nun kommen würde, ruhig an sich herankommen zu lassen...“ (S. 91-92)

 

Während der Kriegsjahre kommt im Text weder von der deutschen noch von der französischen Seite eine Einstellung zu der jeweils offiziell verfeindeten Nation zum Ausdruck.

Zivilbevölkerung:

Die Zivilbevölkerung wird in der Zeit des Krieges lediglich durch die Figur der Französin Jeanne vertreten. Aus ihren Briefen erfährt der Leser allerdings überwiegend nur ihre Gefühle zu Gerhard. Der Krieg ist für sie eine persönliche Tragödie, weil sie von ihrem Geliebten getrennt wurde. Ab und zu bringt sie eine Bemerkung zum Leben in Dijon zum Ausdruck:

10. August. Nun, da der Krieg wahr geworden ist, liegt eine große, seltsame Stille über die Stadt. Früher waren die Nächte laut und lärmend, jetzt sind sie totenstill. Und so schwül und dunstig.“ (S. 98)

 

Im Text wird außerdem im Allgemeinen über die Reaktion der Franzosen auf den  Kriegsausbruch berichtet, der eindeutig als negativ und erschreckend wahrgenommen wird.

„Da aber fegte wie ein Gewitterwind eine jähe Erregung durch die sommermüde Stadt, ein Fieber schüttelte sie. Überall begegnete man geängstigten Gesichtern.

Die Straßen waren durchschwirrt von wilden, unglaubwürdigen Gerüchten. Zeitungsverkäufer schrien heiser drohende Nachrichten in eine sich überall stauende Menge. Wie gereizte Hornissen surrten Flugzeuge über der Stadt und flogen nach Westen und Norden ab.

Soldaten aus allen Regimentern nahmen den Weg zur Bahn, ein wildes Gewirr von grellen Farben: kaltes Weiß, Zinnoberrot und helles blau.

Am Abend drängten sich die Leute erregt vor den Häusern der Zeitungen. Die Gassen waren voll Lärm und Geschrei, das bis in den grauen Morgen währte.

Und dann ein Wort, dumpf, in der Ferne zuerst, dann anschwellend, wie der Schrei eines Irren, immer lauter und lauter: Krieg!“ (S. 86)

Intertextualität:
Einstellung zum Krieg:

Eindeutig ablehnend. Der Krieg stellt in den Augen der Romanfiguren ein sinnloses Ereignis dar, das das Leben aller Menschen vom Grund auf veränderte, zwischenmenschliche Beziehungen zerstörte und viele Menschen ums Leben brachte. Das Leben des Protagonisten wird nach dem krieg durch Gefühle der Melancholie und Traurigkeit gekennzeichnet, der Krieg wird im Allgemeinen als eine Zäsur hinter der alten „guten“ Zeit wahrgenommen.

Angesprochen werden auch die Schwierigkeiten der von der Front zurückkehrenden Soldaten, die aufgrund der erlebten Schrecken zwischen sich und den im Hinterland gebliebenen Menschen eine Kommunikationsbarriere empfinden und sich deswegen in die Gesellschaft nur äußerst schwierig wieder einordnen können.

Außerdem wird die negative Rolle der Kirche thematisiert, die den Krieg und das Töten billigte und somit dazu beitrug, das schlechte Gewissen der Soldaten mit dem üblichen Argument zu beruhigen, die eigene Nation sei die vom Gott zum Sieg auserwählte. Solche nur scheinbar der christlichen Moral entsprechenden Grundsätze werden nach dem Krieg eindeutig abgelehnt.

Germain Brimont hatte eine müde Handbewegung. ,Ich habe mich, aus dem Felde zurückgekommen, nicht mehr hineingefunden. Es war eine Wand zwischen mir und den anderen, den Kameraden, den Lehrern und dem Bischof. Ich habe sie nicht mehr verstanden und sie wohl auch mich nicht mehr. Ich war ihnen eine Verlegenheit geworden.‘

,Sie waren im Felde?‘

,Ja, zwei Jahre. Als Soldat eingerückt. Das war es ja, was mich vom Wege abdrängte... vielleicht vom rechten Wege.‘ Und leiser fügte er hinzu: ,Ich habe getötet.‘ […]

, ... ich sehe ihn noch vor mir ... wir hatten gestürmt ... er war im Graben geblieben ... verwundet vielleicht ... Ich sehe ihn oft vor mir ... den vorsinkenden Kopf ...  die Augen geöffnet, weit geöffnet, blickten mich an ... es war kein Schmerz in diesen Augen, kein Haß ... nur müde waren sie, so müde ...‘ […]

‚Als wir ins Seminar zurückkamenʻ   , fuhr Brimont fort, ‚gab es eine Feier, eine Siegesfeier mit vielen Reden. Man war zufrieden mit uns. Wir hatten unsere Pflicht getan. Gott war mit uns gewesen, hatte Frankreichs Waffen gesegnet, hatte also auch mein Bajonett gesegnet, als ich zustieß damals.ʻ

„,Sie irren‘, sagte Germain Brimont wie zu sich selbst und erregter dann: ,Sie lügen, Gott segnet keine Waffen, Gott ist die Liebe, nicht der Haß und der Mord. Gott hat mich damals angesehen aus den Augen des Sterbenden. Steht nicht geschrieben: Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir ... Gutes und Böses ... Wo steht denn: Tötet die, die eine andere Sprache sprechen. Tötet die, die jenseits des Flusses wohnen ...?‘ “ (S. 122-123)

Sinnangebote:

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