Krieg. Ein Tedeum.

Titel:
Krieg. Ein Tedeum.

Autor:

Carl Hauptmann (10. Mai 1858 in Obersalzbrunn, Schlesien - 4. Februar 1921 in Schreiberhau im Riesengebirge, Schlesien)
Politische Bedeutung:

Linksorientiert.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Nein.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Nein.

Bibliographie

Krieg. Ein Tedeum.
Erscheinungsjahr, Auflage:
1919, 2. Auflage (1. Auflage 1914)
Verlag, Ort:
Kurt Wolff Verlag, Leipzig
Seitenzahl:
104 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Liste der Personen.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Gliederung in vier Teile, die formal der Dramengliederung in Akte entspricht.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:


Nein.

Raum:

Geographischer Raum:

Alle vier Teile spielen in denselben Kulissen einer fiktiven Stadt, die in zwei klar abgegrenzte Bereiche – ein Schloss mit einem umgebenden Park einerseits und ärmliche niedrige Dorfhäuser andererseits – geteilt ist. Da hier im dritten Teil abwechselnd französische und deutsche Soldaten vorkommen, lässt sich die Lage der Stadt in der Nähe der deutsch-französischen Grenze verorten.

Das Schloss dient in den ersten zwei Teilen als Wohnsitz des die Welt regierenden Fürsten Kail und zugleich als Ort einer Tagung aller europäischen Großmächte, später als Wohnsitz des „Ausgebrochenen Staatsphantasten“, der den Krieg verkörpert.

Umfang des Spielraumes:

Welt vor dem Krieg, Hinterland, Front, Welt nach dem Krieg.

Zeit:

Keine konkreten Zeitangaben (wie in expressionistischen Dramen üblich). Der erste und zweite Teil spielen vor einem großen Krieg, dessen Kommen durch mehrere Figuren (durch die hellseherische Gattin des Fürsten Kail und hauptsächlich durch den von Gott als Boten auserwählten "Gramprophet" Petrus Heißler) immer wieder angekündigt wird. Der dritte Teil zeigt den Kriegszustand und die Verwahrlosung der Stadt, wo die Handlung spielt, der letzte Teil die in einem neuen Frühling stehende Welt nach dem Ende des Krieges.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Ein konkreter Kriegsfeind im herkömmlichen Sinne kommt im Text nicht vor, was dem expressionistischen Anspruch auf eine Gesamtdarstellung des aktuellen Weltzustands entspricht.

Der Text stellt ein Bild der europäischen Nationen bzw. Großmächte dar, die bei einer im Schloss des Minister Kails stattfindenden Konferenz durch ihre Wappentiere vertreten werden. So steht z. B. ein Bär für Russland, ein Adler für Deutschland, ein Hahn für Frankreich usw. Einen Ausnahmefall bildet dabei Polen, das als ein bereits nicht existenter Staat durch einen Totenkopf repräsentiert wird. (Die mehrfache Erwähnung der Nichtexistenz des polnischen Staates ist möglicherweise auf die persönliche Beziehung des in Schlesien geborenen Autors zu diesem Land zurückzuführen.) Auf die konkreten Beziehungen zwischen den Nationen wird nicht eingegangen, keiner der Staaten wird  im Vergleich mit den anderen positiv oder negativ hervorgehoben. Trotzdem ist die Gesamtdarstellung der Großmächte durchaus kritisch, da bereits die Existenz einer Großmacht an sich ein Begehren nach immer mehr Reichtum und immer mehr Lebensraum zu Lasten der Anderen voraussetze. Der Krieg wird zwar von den Staatsführern abgelehnt, diese Einstellung geht jedoch aus einer rein egoistischen Angst vor den möglicherweise durch den Krieg allzu groß werdenden Geldverlusten hervor. Die imperialistische Einstellung der Staaten wird durch das Auftreten der allegorischen Figur eines „europäischen Rechenmeisters“ zum Ausdruck gebracht, der als die größte Großmacht die Weltherrschaft der rein quantitativen materialistischen Werte verdeutlicht. Die Darstellung der europäischen Staaten lässt sich dementsprechend als satirisches Bild der realen Vorkriegsstimmung in Europa interpretieren.

Der europäische Rechenmeister, auch herausstürzend, demonstriert am Globus. ‚Ja, meine verehrten Herren Minister … und hohe Würdenträger … es ist ja doch eine sehr einfache Demonstration … hier ist die Erde … jawohl … diese ganze Erde sollte selbstverständlich russisch sein … hehehehe … aber sie ist es noch nicht … nein … sie ist es noch nicht …und natürlich muß der europäische Rechenmeister sich auch völlig tolerant auf einen anderen Standpunkt stellen können … ja … da ist also die Erde … und diese ganze Erde sollte eigentlich auch französisch sein … aber sie ist es noch nicht … […] oder die ganze Erde sollte eigentlich italienisch sein … oder ich meine auch, sie sollte österreichisch sein … nein … sie sollte deutsch sein … oder doch hauptsächlich, sie sollte englisch sein … denn das begehren der Großmächte […] was wäre ein Begehren der Großmächte, wenn es nicht die ganze Erde begehrte … das ist eben das Begehren der Großmächte …“ S. 27-28

Rechenmeister […] ‚Meine verehrten Herren … es gibt ja gewiß auf unserer Erde diese ganze Reihe sogenannter Großmächte … die sich alle behaupten wollen … je größer, desto besser … aber es gibt doch keine größere Großmacht, die sich überzeugender bejahte, als der zahlenmäßige Vorteil.“ S. 31.

Die Tötung des Rechenmeisters durch eine „höhere Instanz“ (S. 32) am Ende des ersten Aktes bringt den eigentlichen Feind der Menschheit ins Spiel – einen sich im alttestamentarischen Sinne verhaltenden grausamen Gott, der durch einen großen Krieg die moralisch völlig verdorbenen Menschen ausrotten und eine neue, bessere Menschheit entstehen lassen will.

Der Erzengel ‚Oh Petrus Heißler … du genarrter Beter … du hast nur Rosen im Schoße Gottes gewähnt … den süßen Hauch von Heimatbergen für Herz und Auge … so seine Himmel […] Rufe im Namen Gottes den Krieg, Petrus Heißler … Gott ist grausamer als Tiergewalten …“ S. 36.

Petrus Heißler ‚Gott ist grausamer als Tiergewalten … laßt euch vor dem Grenzlosen nicht bange sein … Gott ist der große Brandstifter … Gott ist das letzte Geheimnis … Gott will die Ewigkeit ausmessen … Gott will weiter … es wird der große Krieg sein …“ S. 49.

Die sich wiederholenden Auftritte "gepanzerter Erzengel", die Figuren der „drei Scheusale“, der mit den Ankündigung des Krieges beauftragte Prophet Petrus Heißler sowie die biblische Sprache dieser Szenen leiten den kommenden apokalyptischen Krieg ein und lassen an einen Vergleich der beschriebenen Welt mit den biblischen Städten Sodoma und Gomorrha denken.

Der im ersten Akt herrschende Minister Kail (dessen Name, so Peter Sprengel, von dem biblischen Namen Kain abgeleitet sei, wodurch er zum Symbol des in der Welt herrschenden Prinzips des Brudermords wird. Sprengel, P.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918. C. H. Beck, München, 2004. S. 571) wird im zweiten und dritten Akt durch die Figur des „ausgebrochenen Staatsphantasten“ ersetzt. Dieser verkörpert den Krieg und wird durch unterschiedliche Anspielungen als ein auferstandener Napoleon dargestellt und somit zum Sinnbild brutalen Tötens und der sich steigernden Expansivität der Völker.

Der ausgebrochene Staatsphantast ‚Sie nennen mich den großen Verbrecher … sie nennen mich den großen Mörder … weil ich träume wie ein Seraph … weil mein Wollen wie der sichere Pfeil eines Gottes in das äußerste Licht fliegt … weil keine Schranke Raumes und der Zeit je mein Wollen vergitterte …[…] Ich bin die Gewalt wider die Gewalt … ich bin die Vernichtung gegen die Vernichtung … ich bin das erbarmungslose Herz wider das erbarmungslose Herz … ich jage in den Wolken … mein Lumpenmantel fliegt im Sturmwind … mein Wort ist Befehl … von meinem Worte fallen hundert Tote blutend auf die braune Ackererde […] .“ S. 75f.

Freundbild:

Siehe Feindbild.

Zivilbevölkerung:

Die einfachen Menschen werden im Allgemeinen als sich gewalttätig verhaltende und moralisch vollkommen verfallene Wesen dargestellt, von denen es die Erde zu reinigen gilt. Das Animalische des menschlichen Verhaltens, das sich nicht nur durch explizite Handlungsszenen sondern bereits in den Tier-Vertretern der einzelnen Nationen äußert, soll sich durch den Krieg noch steigern, sodass sich die Menschen gegenseitig austilgen.

Eine Männerstimme klingt jetzt deutlich dazwischen. ‚Ich erschlage dich …Weib … ich erschlage dich […] Kinder kommen aus dem Hause mit Angstgeschrei heraus. ‚Vater … du erwürgst die Mutter … Vater … der Vater ist ein Tier … Vater […] Petrus Heißler in plötzlicher Zornaufwallung. ‚Herr … willst du nicht Hilfe bringen … das Untier ermordet das Weib …“ S. 39

 „Petrus Heißler ‚Den Krieg, Herr … soll ich verkündigen? … Der Erzengel ‚Rufe den Krieg … er wird die gezähmten Tiergewalten auf der Erde beleben, daß sie einander anfallen … Mörderheere gegen Mörderheere … und nirgend mehr eine Stätte bleibt wo ein Lamm friedlich weidet … nur Gewappnete allenthalben … nur Räuber- und Mördermenschen, die für den Nächsten den Tod in der Hand und im Auge tragen …“ S. 36

Neben direkt gewalttätig handelnden Figuren, die meistens aus den gegenüber dem Schloss liegenden Armenhäusern stammen oder im dritten Akt von durchziehenden Soldaten repräsentiert werden, kommen auch Figuren vor, die den Krieg ablehnend als „frevelhafteste Geldverschwendung“ (S. 43) und somit ausschließlich als einen Angriff auf ihre wohlhabende imperialistische Lebensweise fürchten, was das Bild einer rein auf materialistischen Werten beruhenden aktuellen Weltanschauung noch mehr unterstreicht.

Der Rentner Otremba pfiffig […] ‚der Krieg wäre ja die sinnloseste Geldverschwendung … nicht bloß Barbarei … […] Der Rentner Apteka ‚Mein verehrter Herr Schalast … ein Kind begreift, daß, wenn unser nationaler Reichtum zunehmen soll, es auf eine ruhige Weiterentwicklung unserer großen Kulturunternehmungen ankommt … ich bitte Sie … was sollen unserer kolossalen Fabriken, wenn die Arbeitsleute hüben und drüben und an allen Ecken der Erde sich auf Schlachtfeldern zu Leichen und Krüppeln machen… was sollen unsere Maschinen … was sollen unserer große Erfindungen, wenn nicht die Arbeitskräfte da sind, die sie in Funktion bringen … und vor allem auf die Sicherheit der finanziellen Zuflußkanäle kommt es an … vor allem müssen die Banken friedlich arbeiten, denn wenn das metallene Leben der Nation ins Stocken geriete …“S. 43

Minister Kaildie führen Männer der Kultur sind sich ihrer ungeheuren Verantwortung voll bewußt… heutzutage Krieg wäre ja eine wahre Blasphemie gegen das Wohl jedes modernen Industrievolkes … das wissen die Völker jetzt selber … und solange ich an der Spitze stehe …“S. 46

Analog zur biblischen Geschichte treten auch einige auserwählte und moralische unverdorbene Figuren auf. Es ist der Sohn Kails und seine Geliebte, das jüdische Mädchen Gruschka, die zusammen einen Sohn namens Enoch zeugen. Dieser soll entsprechend der biblischen Geschichte Kains zum Anfang der neuen Menschheit werden, trägt jedoch zugleich das Prinzip des Brudermordes und des gegenseitigen Hasses bereits in sich.

Gruschka […] ‚ das Knäblein Enoch … es ist aus meinem Blute erwachsen […] man muß seine jungen Augen noch hüten vor der Sonne … Vater … wir er blinzelt … der neue Morgen ist da …oh Herr […] Einige von den Krüppeln […] rufen leidenschaftlich fröhlich. ‚Enoch … es ist Enoch…[…] Andere rufen. ‚Es ist Kains Sohn … Andere rufen. ‚Der Sohn Kains, des Brudermörders …“ S. 102-103.

Der lustige Krüppel […] ‚ Hahahaha … ein Junge wird es wohl wieder sein … das ist das Tolle … das ist ja die Zwickmühe … daß das Weib wieder Mannessamen empfangen hat … nun liegt der Menschensohn zwar noch in Windeln … ihr Herren Krüppel … aber wer weiß denn, ob er nicht wieder ein General wird … hahaha …“ S. 101.

Intertextualität:

Zahlreiche Anspielungen an die biblische Geschichten Kains und der Vernichtung von Sodoma und Gomorrha sowie an die Offenbarung des Johannes.

Einstellung zum Krieg:

Der Text lässt eine ambivalente Deutung des Krieges zu. Dieser wird einerseits als eine reinigende, vom Gott gesandte Instanz dargestellt, die die Welt von der moralisch verfallenen und rein auf materialistische Werte orientierten Menschheit befreien soll und die dementsprechend einen Gegenschlag gegen die bestehende kapitalistische und imperialistische Weltordnung bedeutet. Von den Herrschenden der einzelnen Nationen sowie von anderen als berechnend dargestellten Figuren wird der Krieg aufgrund der möglichen hohen Kosten abgelehnt, an sich aber als ein Mittel zum Gewinn weiteres Lebensraumes und damit auch neuer Besitztümer angenommen.

Andererseits wird der Krieg im dritten Akt als ein völlig grausames Ereignis dargestellt, das die schlechtesten menschlichen Eigenschaften und den gegenseitigen menschlichen Hass eskalieren lässt und somit die letztendliche Ausrottung der Menschheit verursacht. Den wenigen Überlebenden fehlt das grundsätzliche Vertrauen gegenüber anderen Menschen sowie das Vertrauen in die früheren geistigen Grundlagen – angesichts der menschlichen Brutalität hat jegliche philosophische Weisheit versagt.

Der andere Krüppel wie er die Annäherung merkt, plötzlich wie zornig und erschrocken.‚Komme mir nicht nahe … ich habe Menschen nicht gern … man kann nie trauen, ob sie nicht gegen einen eine Tücke im Schilde führen …“ S. 84.

Der Krüppel Philosoph. ‚Ich lehrte doch Menschenphilosophie … Friedensphilosophie … mit sanfter Stimme … mit reingewaschenen Händen … mit ganz vornehmer, edler Darstellungsweise … ich war illuminiert … feurige Zungen auf meinem Haupte … oh, ich trug Ideen vor … die tapferen Jungen vor mir alle dachten, jetzt endlich wäre die Erlösung vom alten Mörderfluche in die Welt gekommen …“ S. 94

Der Zweck des Krieges ist also positiv als Möglichkeit zur Entstehung einer neuen besseren Menschheit zu sehen, sein Verlauf wird jedoch deutlich negativ dargestellt. Nach seinem Ende wird zwar die Hoffnung auf eine bessere Menschheit in die überlebenden Mütter und ihre Söhne gelegt, was jedoch bereits durch die Prophezeiung seiner ewigen Wiederkehr konterkariert wird – denn solange es auf der Erde Männer gibt, solange wird es auch Krieg geben.

Als ein Bezug auf die realen Geschehnisse im Entstehungsjahr des Dramas (1914) ist die mehrmalige Verwendung des Begriffs „der große Krieg“ interessant, der erst in der Zwischenkriegszeit geläufig wurde.  Der im Text beschriebene Krieg und die ihn betreffenden  Ansichten sind dementsprechend auf den realen ersten Weltkrieg zu beziehen.

Petrus Heißler erscheint wieder, ganz ärmlich gekleidet wie ein Bettler, genau wie er die Nacht über der Bibel gesessen, barfuß und mit ungekämmtem, fallendem Grauhaar, einen Strohwisch und einen Purpurlappen auf eine Stange gebunden, schreitet aus dem Hause, feierlich bei dem Schlosspark vorüber, nun immer hinausrufend.‚Flammen werden von den Hausgiebeln züngeln wie Purpurfahnen … verhungerte Kinder werden wie Maden zwischen faulenden Leichen sich winden … keine Hilfe wird kommen … Weiber werden ihren letzten Atemhauch unter der Gier bluttrunkender Männer ausstöhnen … keine Hilfe wird kommen … alle Schreie werden hoffnungslos in die Lüfte gellen … alles Ächzen, wie Gefolterte ächzen, wird hoffnungslos in die Lüfte hallen … es wird der große Krieg sein.“ S. 42

Fürstin Kail […] ‚Oh … du … Fürst und Herr … Menschenvolk ist nie zahm zu machen … und jetzt wird der große Krieg sein … da werden die wilden Begierden wieder über alle Schranken springen … und auch du wirst nur wieder ein einzelner Mensch sein … fähig zu Taten und Verbrechen … fähig zu allem … und auch du wirst nur ein geringes Opfer sein … denn jetzt wird wieder die Zeit der Menschenopfer beginnen … leb’ wohl … geliebter Mann … du Vater Enochs“ S. 50f.

Sinnangebote:

Der Krieg als eine apokalyptische, alle bestehende Ordnungen umstürzende Wende und zugleich als Akt Gottes zur Erschaffung des neuen Menschen, der das bestehende materialistisch orientierte und moralisch verdorbene Menschengeschlecht ersetzen soll.