Der Aufruhr

Titel:
Der Aufruhr

Autor:

Ernst Sommer (29. Oktober 1888 in Iglau, Mähren - 20. Oktober 1955 in London, England)
Politische Bedeutung:

Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, beschäftigte sich viel mit der jüdischen Frage (selber jüdischer Herkunft). Nach dem Münchner Abkommen im Exil gegen den Nationalsozialismus engagiert.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Wahrscheinlich ja – Sommer musste zwischen 1915 und 1918 Militärdienst bei der österreichischen Armee ausüben und war nach einigen Quellen auch an der Front.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Unbekannt.

Bibliographie

Der Aufruhr
Erscheinungsjahr, Auflage:
1993, 1. Auflage 1920
Verlag, Ort:
Reclam Verlag, Stuttgart
Seitenzahl:
43 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Keine.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Homodiegetischer Erzähler (Er-Form, feste interne Fokalisierung (Perspektive der Hauptfigur Claudius Nowotny – des ehemaligen Schauspielers, der wegen der Tuberkulose zum Dienst untauglich ist), Länge: 43 Seiten; in 13 mit Ziffern überschriebene Abschnitte geteilt.  

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Raum:

Geographischer Raum:

Die Geschichte spielt sich in den Kulissen (Markthalle, Straßenbahnen, Fluss, Kathedrale) einer nicht konkretisierten Großstadt. Als ein früherer Wirkungsort des Protagonisten, eines einst sehr erfolgreichen und heute völlig vergessenen Schauspielers, wird dazu „die Provinzhauptstadt des Nordens (S. 274) erwähnt. Bei den beiden Städten könnte es sich daher (der böhmischen Heimat des Autors sowie dem böhmischen Namen Nowotny des Protagonisten entsprechend) vermutlich um die größte deutsch-böhmische Provinzhauptstadt Reichenberg (heute Liberec) und um die Großstadt Prag handeln, eine Bestimmung des konkreten Orts ist für die Geschichte allerdings ohne Bedeutung.

Der überwiegende Teil der Geschichte spielt sich vor einer Markthalle ab, wo Fleisch an die bereits lange wartenden und hungernden Menschen verkauft wird, wo es später unter starkem Einwirken des Protagonisten auf die Menschen zu einem Aufruhr kommt, bei dem die Menschenmasse die Halle anstürmen und folglich vom Militär heftig und teilweise mit tödlichen Auswirkungen zurückgedrängt werden.

Umfang des Spielraumes:

Hinterland.

Zeit:

Die Handlung schließt einen Zeitraum vom Abend über die Nacht bis zum kommenden Morgen ein. Im Text gibt es keine konkreten Zeitangaben, es geht jedoch klar hervor, dass es sich um die Zeit des Ersten Weltkriegs handelt.

„‚Denen, die sich nicht zum Militär genommen haben, geht es ohnehin gut – ʻ bemerkte eine kleine Frau, aus deren dreifach umgeschlagenen Kopftuch ein Vogelgesicht hervorblinzelte, mit spitzem Tonfall, ‚können dick verdienen. Aber die armen Hascher in den Schützengraben – .“ S. 265

Fremdenbilder:

Feindbild:
Freundbild:
Zivilbevölkerung:

Der Text thematisiert die Auswirkungen, die das durch den Krieg verursachte materielle Elend auf das alltägliche Leben der einfachen Menschen sowie deren Psyche ausübt. Zu ihrer größten Sorge wird der Hunger, dessen Tilgung und die folgende kurzfristige Befriedigung durch das Essen die früheren geistigen Ideale und Werte ersetzen. Das menschliche Verhalten wird also durch den Krieg auf rein körperlichen Bedürfnisse reduziert und somit, wie auch in der Erzählung mehrmals erwähnt wird, auf die ebene eines Tieres herabgesetzt. Das Bedürfnis nach Sättigung schaltet die bürgerlichen und moralischen Grundsätze der Menschen aus, die sich dementsprechend sehr einfach in eine gedankenlose, wütende Masse verwandeln lassen, und die, um an Nahrung zu kommen, sogar bereit wären zu töten. Dieser Umstand ist umso schlimmer, dass der Führer und Verführer dieser Masse, der Protagonist, welcher den thematisierten Aufruhr vor der Markthalle verursacht, bloß ein guter Schauspieler ist, der seine Rede zu den Menschen nur zum eigenen Nutzen hält, erstens um selber ans Fleisch zu kommen, zweitens um für eigene schauspielerische Gabe nach einer langen Zeit wieder ein Publikum zu gewinnen.

Der Protagonist selber wurde aufgrund seines andauernden Gefühls der Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit längst zu einem rücksichtslosen Egoist, bei dem das Essen bereits die Rolle einer Religion ersetzte und zu einer irdischen Erlösung wurde.

»Sie können auch nicht schlafen-« sagte Claudius, währen er die Zigarre ins Brand setzte. »Schlafen könnte ich schon-« gab der Mann zur Antwort, »aber was nützt das? Die Sorgen werde ich nicht los. Und im Traum bin ich ihnen erst recht ausgeliefert.« »Was für Sorgen?« erkundigte sich Claudius behutsam. »Als ob Sie davon gar nichts verspürten!« lachte der Mann. »Oder haben Sie das nie empfunden, daß es so nicht weiter geht? Was habe ich von meinem Leben? Die ganze Welt ist ein Hungertum, in dem man herumläuft und nach einem Brocken sucht. Ich kann nichts denken, nicht tun, nicht schaffen. Wie mache ich meine Leute satt? Werden wir morgen was zu essen haben? Man wird fürchterlich stumpf. Das ist das Ärgste. Ich habe seit Wochen keine Note geschrieben.« […] » Früher hab‘ ich an solchen Abenden wenigstens mir gehört. Mir und meiner Zukunft. Jetzt aber gehöre ich nur mehr dem Hunger.« »Zukunft-«sagte Claudius geringschätzig, »das ist ein Ding, das ich nicht verstehe. Morgen muss ich zu essen haben, das genügt. S. 270, 271

Mehrmals wird dementsprechend seine feindliche Stellung zu dem katholischen Glauben und seinen Grundsätzen erwähnt. Zum Höhepunkt seines moralischen Verfalls wird der Mord an einem Kanalräumer, der ihm das beim Aufruhr gestohlene Fleisch zu entnehmen versucht. 

„‚Komm Herr Jesus, sei unser Gast – ʻ murmelte die Frau, während sie Platz nahmen. Claudius runzelte die Brauen. ‚Schweig!ʻ Er warf ihr die Hälfte des Bratens auf den Teller. ‚Lade dir Gäste einʻ, knurrte er, ‚wenn du Fleisch auftreibst. Ich habe nicht die Absicht, mein schwer errungenes Mahl einem hergelaufenen Hungerleider anzubieten.ʻ Er atmete tief auf. Die Falte seiner Stirn wurde glatt. Über dem dampfenden Teller gebeugt, bog er den Mund zu einem seligen Lächeln. Die Nähre der lange verheißenden Lust hüllte seine Augen in einen tieferen Glanz. Er hob die Hände, ernst, gemessen, als gälte es, eine heilige Handlung zu beginnen. Dann führte er mit der Beschwingtheit eines Erlösten den ersten Bissen zu den hingegebenen schmachtenden Lippen.“ S. 305

Thematisiert wird außerdem der sich durch den Hunger steigernde kritische Blick der einfachen Menschen auf die reiche herrschende Gesellschaftsschicht, von der sie sich unterdrückt fühlen und die in ihren Augen Luxus- und Mangelware nur für sich behält.  Kritisiert werden im Allgemeinen die Staatsbehörden und die Regierung, die der Monarchie blind und gehorsam dienen, wobei sich diese wie ein erstarrter Koloss verhält, der mit den in ihm lebenden Menschen nichts zu tun hat. Dementsprechend schenkt die ausgehungerte, die ganze Nacht auf das Fleisch wartende Masse ihr Vertrauen lieber einem völlig unbekannten und phrasenhaft redenden Schauspieler als einem Staatsbeamter, der den Aufruhr vor der Markthalle zu verhindern versucht.

„Die Menge schob und drängte sich näher gegen die Stufen. Ein Marktkomissär suchte zu beschwichtigen. »Geduld!« befahl er mit der Wichtigkeit des Beamten. »Zurück und aufgepaßt, bis jeder auf die Reihe kommt. In zwei Stunden sind alle fertig.« »Ja, und wir werden wieder mit leeren Händen abziehen«, sagte eine Frau aus der Menge klagend. Und eine andere sagte ergeben und müde: »Wir sind ja auch Menschen. Warum sind immer andere da, die alles bekommen. Und für uns bleibt nichts.“ S.280

„Der Staat, das ist ein blinder, unbeholfener Koloß, der mit plumpen Knochen anfangs Gepolter macht, Hohes und Niederes, Nahes und Fernes mit gähnendem Rachen zu verschlingen droht und zuletzt – über Zwirnsfäden stolpert.“ S. 291

"Und wenn er aß, vergaß er alles, selbst das Nächste. Er nahm die Bissen mit Inbrunst in den Mund. Das Wohlegefühl des Kauens und Schluckens ersetzte ihm alle ehemaligen Vergnügungen, alle Lüste und Freuden vergangener Tage und sogar auch die Religion. Er betrachtete jeden Bissen voll Ehrfurcht…" S. 273

Intertextualität:
Einstellung zum Krieg:

Der Krieg wird nicht direkt thematisiert, das materielle Elend und der Verfall der christlichen und bürgerlichen Moralwerte sind allerdings klar als seine Folge zu verstehen, was den Text eindeutig in den Bereich der den Krieg ablehnenden Literatur rücken lässt.

Die Erzählung will in erster Reihe darauf aufmerksam machen, welche Gefahr die durch den Krieg verursachte Not im Hinterland mit sich bringt. Es kommt zum Verschwinden der sonst üblichen moralischen Grundsätze, die von rein materiellen Bedürfnissen in Hintergrund gedrängt werden, da die Menschen sich ums eigene Überleben bemühen müssen. Ihr Leben wird somit zu einem Kampf ums Dasein, in dem derjenige gewinnt, der sich sowie der Protagonist völlig egoistisch verhält. Solche Verhaltensweise setzt, wie in der Erzählung mehrmals angedeutet wird, den Mensch auf das geistige Niveau eines Tieres. Dem entspricht auch die Tatsache, dass es beim Aufruhr darum geht, möglichst viel Fleisch zu erbeuten, welches als ein Symbol der animalischen Triebe gesehen werden kann.

Der Text zeigt zugleich, dass eine Krisensituation wie der Mangel an lebensnotwendigen Lebensmitteln die Menschen sehr leicht beherrschbar macht und sie unter einem geschickt redenden Führer zu einer gedankenlosen Masse verwandeln lässt. Aus diesem Grund wird die Erzählung von der Sekundärliteratur häufig als eine Antizipation der nationalsozialistischen Massenverführung bezeichnet.

Sinnangebote: