Der Verbrecher Siebenhirt.

Titel:
Der Verbrecher Siebenhirt.

Autor:

Rudolf Jeremias Kreutz ( 2. Februar 1876 in Rozdalowitz, Böhmen - 3. September 1949 in Grundlsee, Österreich)
Politische Bedeutung:

Pazifistische Weltanschauung, die aufgrund der Kriegsgefangenschaft in Ostsibirien entstand.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Ja, ab 1894 Offizier der k.u.k. Armee;  zwischen 1914 und 1918  in russischer Gefangenschaft.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Nein.

Bibliographie

Menschen im Schutt
Erscheinungsjahr, Auflage:
1923, 1. Auflage
Verlag, Ort:
Reclam Verlag, Leipzig
Seitenzahl:
77 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Widmung an Helene Hoerschelmann.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

 Heterodiegetischer Erzähler, Nullfokalisierung.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Nein.

Raum:

Geographischer Raum:

Wien; konkret genannt wird die Wiener Straße Am Graben und das Wiener Hotel Exzelsior, die im Text als Luxussymbol figurieren und zum Ziel einer plündernden Masse werden.

Umfang des Spielraumes:

Hinterland, Welt nach dem Weltkrieg.

Zeit:

Als Handlungszeit wird explizit Dezember 1921 genannt.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Im Text kommt lediglich ein offensichtlich besseren Gesellschaftsschichten angehörende Franzose vor, dessen Bekleidung der plündernden Masse (siehe Zivilbevölkerung) zum Opfer fällt. Er wird gleich wie andere Reiche von der Menschenmenge behandelt, seine Nationalität spielt bei der Beraubung keine Rolle. Der Text macht trotzdem deutlich, dass die Hassgefühle gegen die früheren Kriegsfeinde bei der auftretenden Menschenmenge immer noch präsent sind.

„Die Einrichtung der Halle war kurz und klein geschlagen. Besoffene, Flaschen in den Händen, sangen das Lied der Arbeit. Ein paar rammten die Tür zum Speisesaal. Ein Herr im Pelz sprang furchtlos aus der Bresche. ‚Moi, je sius Français,ʻ rief er mit starker Beschwörung und – hatte keinen Pelz mehr. ‚Français!ʻ Wiederholte er, verdutzt drohend. ‚Dös macht nix,ʻ beruhigte eine gemütliche Stimme und aufmerksame Hände versorgten hm Uhr und Kette. ‚Franzose…ʻ übersetzte der furchtlose Herr flüsternd und duckte sich hinter dem Wort wie hinter verbeultem Schild. ‚Was maken Sie?ʻ ‚An Ausgleich,ʻ tröstete es behaglich, und nahm ihm das Jackett. Da grüßte der Herr – wahrhaftig, er faltete die gepflegten Hände und verbeugte sich mit einem bittenden Lächeln vor der schmutzigen Wolke. Sie ließ ab von ihm. Er lief in großen Sätzen hemdärmelig in das Dunkel.“ S. 16

Freundbild:

-

Zivilbevölkerung:

Der Text beschreibt die katastrophale materielle Not, die bei den niedrigeren Gesellschaftsschichten in Wien der Nachkriegszeit herrscht. Dieser Zustand kontrastiert mit den höheren Gesellschaftskreisen, die als oberflächlich dargestellt werden, in übertriebenem Luxus leben und sich auf Kosten der Armen durch unverhältnismäßige Steigerung der Grundlebensmittelpreisen bereichern.

Der Protagonist des Textes, ein pensionierter Gymnasiallehrer und promovierter Germanist, steht als gebildeter Mensch außerhalb der beiden Gesellschaftspolen, die Kapitalismus und Proletariertum verkörpern sollen. Durch die schlechte materielle Situation wird er gezwungen, seine Bibliothek, das Symbol seiner humanistischen Bildung, zu verkaufen, um die überteuerten Nahrungsmittel einkaufen zu können.

„Der pensionierte Gymnasiallehrer Dr. Franz Siebenhirt stand an einem Dezembertage des Jahres 1921 vor seinem halbgeleerten Bücherschrank. Er kalkulierte Klassiker. Goethe… den mit dem gepreßten Lederrücken. ‚Gut erhalten, dreibändig,ʻ murmelte er, ‚fast neu…macht vielleicht – zwei Kilo Schmalz. Das reicht immerhin…das dürfte dass doch über die drei Nächsten Monate reichen. – Schiller – ohne Leder, aber rot und gold mit Bildern von Doré. Das kaufen die Leute besonders gern, die Leute! Wollen was zum Anschauen haben, und glänzen muß der Einband…glänzen!ʻ Er kollerte ein kurzes, böses Lachen hervor. ‚Bleibt in reserve vorläufig, der Schiller. Für das Frühjahr. Anderseits – die Martha geht mir ein, sie sollte eigentlich jetzt schon ein Ei…wenigstens zweimal in der Woche -ʻ Siebenhirt fuhr sich durch das schüttere, graue Haar und musterte Grillparzer. Wenn der nur besser ausschauen möchte! Dann könnte man ihn als Zuwage geben, zum Goethe. Aber es wird nichts mit ihm: billige Volksausgabe, kleiner Druck und zerlesen…zerlesen! Wie ich.“ S. 5.

Das zentrale Ereignis des Textes ist eine Plünderei, bei der luxuriöse Wiener Geschäfte und anschließend das Wiener Hotel Exzelsior von einer Proletariermasse ausgeplündert werden, bis das Toben schließlich von der Stadtpolizei beendet wird.

Der Protagonist, der durch Zufall in die Masse gerät, spürt einen starken Druck, seine Individualität und moralischen Prinzipien aufzugeben und in der sich tierisch verhaltenden Menschenmenge aufzugehen, was letztendlich auch passiert, indem er für seine hungernde Frau eine Flasche Eierlikör klaut. Für seine Tat wird er letztendlich vor Gericht freigesprochen, stellt allerdings als Schlusspointe des Textes fest, dass sich die Lebensverhältnisse ärmere Sozialschichten keineswegs verändern bzw. weiter verschlechtern.

Intertextualität:

Eine Anspielung an die Erzählung Der arme Spielmann von Fr. Grillparzer, mit dem der Protagonist implizit verglichen wird. Außerdem wiederholt ein Zitat aus dem Gedicht Im November 1814 von Karl Friedrich Gottlob Wetzel (siehe Einstellung zum Krieg).

Einstellung zum Krieg:

Der Krieg wird eindeutig als Ursache der in der Nachkriegszeit herrschenden Not und gesellschaftlicher Krise dargestellt und dementsprechend negativ wahrgenommen. Er hat erstens durch die von ihm verursachte materielle Not weitreichende Auswirkungen auf die  geistigen Ideale und Werte der Menschen, die auf diese zugunsten der Befriedigung rein körperlicher Triebe verzichten. Zweitens werden die Kriegserlebnisse mehrere Male als Grundlage für das weitere, den Verhältnissen in der Friedenszeit nicht entsprechende Verhalten der plündernden Masse. Die Leichtigkeit, mit der die Figuren im Text ihre Individualität in der Masse aufgeben, wird durch das im Krieg angewöhnte gedankenlose Ausüben von Befehlen begründet.

„‚Es ist höchst merkwürdigʻ, sagte der Vorsitzende und rollte milde Augen gegen Siebenhirt, ‚daß ein akademisch gebildeter Mensch in Ihrem Alter und von Ihrer Vergangenheit sich in solche Gesellschaft begibt, in ihr gewissermaßen durchhält.‘ […] ‚Erklären sie uns,‘ fuhr der Vorsitzende fort, ‚warum sind Sie nicht gleich weggegangen, als Sie merkten, was sich vorbereitete? Es mußte Ihnen doch alsbald klar geworden sein, daß Sie unter Elementen waren, die Böses im Schilde führten.‘ […] ‚Sie sind mit der Plündernden Menge bis vor das Hotel Exzelsior gezogen und in das Verstibüll eingedrungen. Ist das richtig? Ist das richtig?‘ Siebenhirt schüttelte heftig den Kopf. Der Verteidiger wackelte energisch mit. Der Staatsanwalt feixte: ‚Sie werden doch wohl die Fakta nicht leugnen wollen?!‘ ‚Es ist in mich eingedrungen,‘ sagte Siebenhirt zögernd, ‚ich kann das nicht erklären…ich war nicht mehr. Es war –‘ ‚Ein interessantes Abstraktum dieses Es, der große unbekannte, meine Herren Geschworenen,‘ grinste der Staatsanwalt.[…] Der Vorsitzende räusperte sich: ‚Hm, ja – Sie wollen wohl sagen, Angeklagter, daß Ihre Selbstverantwortung erlosch, als Sie in der Masse staken, daß Sie als Individuum wehrlos wurden.‘ ‚Ich wußte, was ich tat,‘ sagte Siebenhirt, ‚aber ich konnte nichts dagegen tun.‘ […] Die Geschworenen schauten verdutzt, der Verteidiger rang die Hände und sprang auf: ‚Die wahrhaft mustergültige Definition für unwiderstehlichen Zwang, die der Angeklagte soeben gegeben hat, veranlaßt mich zu einer Frage. […] Waren Sie, meine Herren, insbesondere Sie, Herr Staatsanwalt, im Feld? Wenn nein, dann bedauere ich. Ich war achtzehn Monate vorne. Und darum fällt mir das psychische Phänomen des Sturmes ein. Tausend Menschen wollen den Tod nicht, keiner will ihn, und doch laufen sie willig in ihn hinein. Alle auf einmal, in einem Willen, der keinem von ihnen gehört und darum alle zwingt.“ S. 21

Das egoistische, rein auf primitive Triebe reduzierte Verhalten, das im Krieg zum Überleben notwendig war, funktioniert in der Nachkriegszeit weiter. Überdies proklamiert die proletarische Masse aufgrund der herrschenden großen sozialen Unterschiede einen Krieg gegen die oberen Gesellschaftsschichten. Ihre Ansprüche und somit auch die Plünderei wird von der Masse durch die Tatsache begründet, dass die Armen auf Befehl der Reichen unfreiwillig im Krieg kämpften, ohne dafür auf irgendeine Weise belohnt worden zu sein.

„‚Im Krieg haben s´ uns Bluat saufen g´lernt, Schnaps ist g´sünder,‘ gröhlte ein trunken humpelnder Invalide, ‚auf zum Exzelsior! Dort san die feinsten Trauben.‘ Flaschen zerschellten, Wein rann über den Gehsteig. Der betrunkene Humpelmann schwang die Krücke: ‚Direktion Exzelsior – Sturm! Ententeschiaber hängen!‘ Die Wolke donnerte Widerhall: ‚Exzelsior! Exzelsior!‘ Und wehte gegen die Ringstraße.“ S.14

„Der Luster knallte und hagelte geschliffenes Glas. ‚Alles muaß hin werden!‘ heulten dumme Teufel. Heiß mühten sich sehnige Arbeiterfäuste, den ledernen Klubfauteuils die Haut abzuziehen. ‚Im Krieg war´s erlaubt, als Belohnung fürs Morden,‘ rief behaglicher Baß, ‚is Frieden? Ja, an Dreck. Krieg is, sag´ i! Krieg bis aufs Messer.ʻ“ S. 15.

Durch die Figur des Protagonisten bringt der Text außerdem die Problematik des Individuums zum Ausdruck. Der Krisenzustand nach dem Kriegsende bedeutet zugleich ein Ende der früheren ethischen Grundsätze, die der Protagonist an der Sozialethik des aus Böhmen stammenden Sozialphilosophen Josef Popper-Lynkeus festmacht: „Das Individuum ist etwas, das nicht aufhören will zu sein, noch nach seiner Art zu sein.“ (S.16). Diese These von Lynkeus über die Einzigartigkeit des Individuums und seinen unmessbaren Wert ist, so der Protagonist, in dem Krieg sowie in der durch materielle Krise und folgenden geistigen Verfall geprägten Nachkriegsgesellschaft nicht mehr zu halten. Der Protagonist stellt fest, dass das Individuum als ein nicht tierisches, erhabenes Wesen nur solange seine Individualität behalten kann, solange seine körperlichen Bedürfnisse befriedigt werden und seine Existenz nicht bedroht wird. Sobald eine solche Bedrohung eintritt, wird der Mensch zu einem bloßen Teil der auf primitive Bedürfnisse orientierten Masse.

„So ist es vielmehr – schmerzenden Kopfes, gehöhlt von Hunger und Hohn, subsumierte Siebenhirt – : das Individuum stirbt, sobald es an das Leben des Organismus geht.“ S. 17.

Der Text stellt sich, trotz der Kritik des Egoismus der Reichen, nicht auf die Seite der kommunistischen Masse und präsentiert sogar den Inhalt kommunistischer Zeitungen als leere Phrasen. Der Zustand der Gesellschaft wird vom Protagonisten wiederholt durch den Satz „Die Welt ist reif.“ mit dem biblischen Weltuntergang verglichen. Der zitierte Satz stammt höchstwahrscheinlich aus dem Gedicht Im November 1814 von Karl Friedrich Gottlob Wetzel, das die Ankunft des Jüngsten Gericht ankündigt.

 

Sinnangebote:

Keine.