Die nachgeholten Freuden

Titel:
Die nachgeholten Freuden

Autor:

Ludwig Winder ( 7. Februar 1889 in Šafov, Mähren - 16. Juni 1946 in Baldock, England)
Politische Bedeutung:

Der Autor setzte sich immer wieder für einen nationalen und kulturellen Ausgleich zwischen den Deutschen und Tschechen ein.

Perspektive:
Kriegserlebnis:

Nein.

Vorkommen von autobiographischen Elementen im Text:

Nein.

Bibliographie

Die nachgeholten Freuden
Erscheinungsjahr, Auflage:
1987,
Verlag, Ort:
Paul Zsolnay Verlag, Hamburg/Wien
Seitenzahl:
340 S.
Gattung:
Epik
Darstellungstyp:

Repräsentationstyp.

Paratexte:

Keine.

Struktur:

Formale Charakteristik des Werkes:

Der Roman ist in drei Teile gegliedert (10, 8 und 8 Kapitel). Heterodiegetischer Erzähler; Nullfokalisierung; an mehreren Stellen werden die Gedanken der Protagonisten in transponierter Rede wiedergegeben.

Eingliederung von Dokumenten / Medien / Bilder:

Nein.

Raum:

Geographischer Raum:

Ein fiktives böhmisches Städtchen namens Boran; in einer Rückblende, die von der Jugend des Protagonisten berichtet, Serbien und Kroatien; außerdem kurz Paris, wo Gräfin Allegra, eine der Hauptfiguren, lebt.

Umfang des Spielraumes:

Hinterland, die Welt nach dem Weltkrieg.

Zeit:

Die Handlung beginnt einige Monate vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, am 2. Juli 1918, und endet 1926; der erste Teil umfasst den Zeitraum vom 2.7. bis zum 31.10.1918, das fünfte Kapitel ist eine Rückblende, die die Jugendzeit des Protagonisten Adam Dupic bis zu seiner Ankunft in Boran 1918 schildert. Der zweite Teil umfasst eine Zeitspanne zwischen dem November 1918 und dem 15.10.1919, der kürzeste dritte Teil spielt zwischen dem Juli 1920 und dem 25.10.1926.

Die Handlung weist auf zahlreiche reale politische Ereignisse hin (Wilsons Antwort auf Österreichs Bitte um Frieden vom 19.9.1918, Entstehung der Tschechoslowakischen Republik am 28.10.1918 usw.), die zeitliche Orientierung im Text ist daher klar. Die genauen Datenangaben, die nicht immer im Zusammenhang mit wichtigen historischen Ereignissen stehen, sollen die Authentizität des Erzählten unterstützen.

Da mehrere sich parallel abspielende Geschichten geschildert werden, enthält der Text einige Zeitsprünge.

Fremdenbilder:

Feindbild:

Thematisiert werden lediglich die Russen. Einer der Protagonisten, der aus Boran stammende junge Jude Karl Buxbaum, wurde 1915 an der russischen Front mitsamt seinem gesamten tschechischen Regiment gefangen genommen und nach Sibirien transportiert. Hier befreundete er sich mit einem russischen Jurist, dem er zur Zwangsarbeit zugeteilt wird und der ihn ohne nationalistische oder rassische Vorurteile behandelt. Nachdem Buxbaum die katastrophalen Lebensverhältnisse Russlands kennenlernt, wird er zum Verfechter kommunistischen Gedankenguts, das er nach 1918, nach seiner Rückkehr nach Böhmen, weiter zu verbreiten versucht.   

[…] in Herbst kam er mit einem tschechischen Regiment an die russische Front, wurde mit dem ganzen Regiment, das sich rasch mit dne Russen verständigte, gefangen genommen, nach Sibirien transportiert. Im Winter wurde er dem Rechtsanwalt Wladimir Dmitriewitsch Michowski in Topolka, einem elenden Städtchen, zur beliebigen Verwendung übergeben. Karl merkte schon am ersten Tag, daß er sich unter guten Menschen befand. Michowski, ein schweigsamer, in sich gekehrter Mann, war mehr Gutsbesitzer als Jurist, mehr Bauer als Gutsbesitzer. Er trachtete die Streitigkeiten der Bauern patriarchalisch auszugleichen, jeder Weg zu Gericht fiel ihm lästig. […] die beiden Männer hatten, wie sich nun herausstellte, eine gemeinsame Abneigung, de Juristerei; diese Übereinstimmung fesselte einen an den andern mehr als eine gemeinsame Liebhaberei. Karl machte sich erbötig, dem Rechtsanwalt nach und nach Kanzleiarbeiten abzunehmen.  […] Er sah die furchtbaren Leiden des russischen Volkes. In den Dörfern, die er mit dem Rechtsanwalt besuchte, sah er unvorstellbares Elend. Als die Revolution kam, glaubte er, alle Völker seien nun reif, sich zu befreien, der Weltfriede müssen nun beginnen.“ S. 139f

Freundbild:

Der Text schildert sehr allgemein die vor und bei der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik verlaufenden nationalistischen Kämpfe zwischen den böhmischen Deutschen und den Tschechen sowie andere politische Ereignisse (Aufstieg der Proletariertums und folgende Streiks in großen Industriebetrieben), die der realen politischen Entwicklung in Böhmen nach dem Krieg entsprechen. Keine von den beteiligten Parteien wird dabei im Text positiv oder negativ hervorgehoben.

Wie bereits beim Feindbild angedeutet wurde, wird im Text das übliche Klischee thematisiert, die an der Ostfront kämpfenden tschechischen Regimente der k.u.k. österreichisch-ungarischen Armee ließen sich bereitwillig von der russischen Armee gefangen nehmen, um an der Seite der Monarchie nicht weiter kämpfen zu müssen. Auch diese Tatsache wird allerdings lediglich erwähnt und auf keinerlei Weise beurteilt.

In einer von den Figuren, dem tschechischen Proletarier Domansky, werden die psychischen Folgen des Fronteinsatzes der Soldaten zum Ausdruck gebracht. Für die Soldaten wird der „von oben“ befohlene Kampf zur Frage des eigenen Überlebens. Deswegen gewöhnen sie sich im Laufe des Krieges an die Gewalttaten, zu denen sie an der Front durch die Umstände gezwungen werden. Nach der Rückkehr in die Heimat sind sie jedoch nicht mehr imstande, die angewöhnte primitive und brutale Lebensweise abzulegen und sich an das alltägliche Leben anzupassen.

Man kann nicht aufhören, das ist es, man kann nicht auf Kommando aufhören, das ist der Kern der Sache. Wahrscheinlich haben auch Sie im Krieg ein Verbrechen nach dem andern begangen, genauso wie ich. Man kann nicht aufhören, nicht wahr, das ist es doch? Zum erstenmal hab’ ich das schon am ersten Tag nach der Heimkehr bemerkt. Da war ein Frauenzimmer bei mir […], sie hat mich schon vor dem Krieg gern gehabt, damals war sie ein frisches, strammes Mädel […]. Ich bin erschrocken, wie ich sie gesehn hab’. ‚Gott sei Dank, daß du wieder da bist‘, sagt sie und zieht sich aus, als ob sie erst gestern bei mir geschlafen hätt’. Ich denk’ mir: Wenn sie wüßt’, wie mir graust vor ihr, aber ich sag’ nichts und beug’ mich zu ihr nieder, um sie nicht zu kränken. Aber wie ich mit den Händen ihren Hals berühr’, steigt mir auf einmal das Blut zu Kopfe, und meine Finger sind auf einmal wie verrückt und fangen an, das Mädel zu würgen.“ S. 220f

Außerdem wird die nach dem Krieg immer noch andauernde kritische Einstellung der ehemaligen einfachen Soldaten zu den Offizieren thematisiert, für die der Krieg viel einfacher gewesen sein soll als für die ersteren.

„‚So. Da haben Sie’s gut gehabt. Da wissen Sie ja nichts.‘ Er setzte den Hut auf und sagte mit wutbebender Stimme: ‚Wenn Sie im Krieg das mitgemacht hätten, was ich mitgemacht hab‘…“ S. 217

Zivilbevölkerung:

Die fiktive Stadt Boran funktioniert als repräsentativer Querschnitt der böhmischen Bevölkerung am Ende des Krieges und nach seinem Ende. Es sind hier sowohl Deutsche, als auch Tschechen und Juden und alle Gesellschaftsschichten, von hohem Adel, das das hiesige Schloss bewohnt, über reiches Bürgertum und Kaufleute zu Ghetto-Juden, Arbeitern und Proletariern vertreten, wobei die Haltung des Textes gegenüber allen diesen Gruppen neutral bleibt. Die am Ende des Krieges herrschende Wirtschaftskrise hat v. a. auf die entgegengesetzten Gesellschaftspole – die Adeligen und die Armen – weitreichende Auswirkungen. So sieht die in Boran ansässige adelige Familie Thun, die den Adel im Allgemeinen vertritt, der sicheren Niederlage der Habsburger Monarchie und somit auch dem Verlust eigenen Vermögens entgegen.

„Die vier Gäste blieben stumm. Thun wartete, sagte endlich: ‚Ich dank´ euch, daß ihr so geduldig zugehört habt. Es war ja recht langweilig.ʻ ‚Es war leider sehr interessant, mein Lieberʻ, sagte Kinsky, ‚interessanter, als ich gewünscht hätte, denn genau so, wie´s  jetzt bei dir aussieht, wird es kurzer Zeit bei mir und bei uns allen aussehen. ist ja kein Wunder. Da sagen die Leue noch, der Großgrundbesitz wird im Krieg reich. Jahrelang hat man keine Arbeiter, alles liegt darnieder, die Felder werfen nichts ab, das Vieh ist futsch, was halbwegs taugt, hat man requiriert, es ist einfach trostlos. Weiter, Jetzt haben wir vier Jahre Krieg. Dauert der krieg noch lang, so sind wir eo ipso verloren, denn der Krieg frißt alles restlos auf. Ist des Krieg aber eines Tages zu Ende, so kommt das Chaos. Daß wir den Krieg gewinnen, ist ausgeschlossen. bei uns gibt das jeder zu, vom Gottsöbersten angefangen. Nach einem verlorenen Krieg werden wir alle, wie wir da sitzen, einfach wegrasiert. Wegrasiert, sag´ ich euch, Vielleicht wird man uns nicht aufhängen, das ist aber auch das einzige, was wir erhoffen dürfen. Alles andre kann man sich einfach nicht schwarz genug ausmalen. Gehören wird uns gar nichts mehr.“ 15f. 

Durch seine hohe Verschuldung und die wirtschaftliche Entwicklung Österreich-Ungarns ist das Haus Thun im Laufe des Krieges genauso wie viele andere Adelige finanziell zugrunde gegangen. Eine Hilfe von Seiten ihrer adeligen Freunde sowie des Kaisers zeigt sich aussichtslos. Dementsprechend ist die Familie bald danach umgekehrt auch nicht bereit, dem Kaisertum ihre Unterstützung zu sichern. Dieser Verfall feudaler Beziehungen beschleunigt natürlich den Zerfall der Monarchie. Außerdem ist sich der Adel der nahenden Entstehung der Tschechoslowakischen Republik bewusst, nach der die Tschechen ihren Großgrundbesitz beschlagnahmen würden. Durch diese ihre aktuelle Lage sehen sich die Thuns gezwungen, ihr Schloss mit allen umgebenden Besitztümern an den Spekulanten Adam Dupic zu verkaufen. Dieser erlaubt ihnen zwar, das Schloss weiterhin als ihren Wohnsitz zu nutzen, erniedrigt sie jedoch durch Demütigungen unterschiedlicher Art und bestätigt somit seine Macht über die vormals höchstgestellt Gesellschaftsschicht.

Die schlechte materielle Lage wirkt sich in großem Maße auch auf die Boraner Arbeiter und Handwerker aus, die im Laufe des Krieges immer mehr durch Hunger und Mangel an elementaren Alltagsbedarf geplagt werden, was sie, wie der Text zeigt, zum einfachen Manipulationsobjekt macht. Dupic nutzt ihre Lage, um seine materielle und mentale Herrschaft über die ganze Stadt (siehe Einstellung zum Krieg) aufzubauen. Dies gelingt ihm prinzipiell dadurch, dass er den Stadtbewohnern ermöglicht, ihre körperlichen Triebe und materielle Bedürfnisse mittels Geld zu befriedigen, wofür die Stadtbewohner wiederum bereit sind, ihre üblichen moralischen Prinzipien aufzugeben.

Intertextualität:
Einstellung zum Krieg:

Ablehnend. Der Text zeigt am Beispiel der Stadt Boran die weitreichenden negativen Auswirkungen des Krieges, die alle soziale Schichten in der Stadt Boran betreffen. Da diese (wie oben erwähnt) einen Querschnitt durch die Nachkriegsgesellschaft in Böhmen abbilden, lässt sich der Stadt eine allgemein repräsentative Funktion, der Handlung selbst ein Vorwarnungscharakter zuschreiben.

Adam Dupic stellt den Mittelpunkt der Handlung dar, auf den sich die Geschichten aller anderen Figuren beziehen. Dupic, dem Sohn eines armen kroatischen Bauern, gelingt es während des Krieges, anfangs durch kleinere Betrüge und später große, durch die schlechte Kriegswirtschaft Österreich-Ungarns ermöglichte Geldspekulationen, finanziell emporzukommen. Seine Kontakte auf dem Kaiserhof ausnutzend, kommt er am Ende des Krieges nach Boran. Hier kauft er von der hoch verschuldeten gräflichen Familie Thun ihr Schloss und es gelingt ihm schrittweise, sich auch die meisten anderen Stadtbewohner durch scheinbar großzügige Kredite zu verpflichten und nach und nach, trotz einiger Gegentendenzen, fast die ganze Stadt zu beherrschen. Seine Schuldner nutzt Dupic folgend für die Wiederbelebung der zugrunde gegangenen Boraner Industrie aus, indem er sie zur Arbeit am Bau von sechs die Stadt umringenden Kunstseidenfabriken zwingt, in den sie nach der Fertigstellung des Baus weiter arbeiten müssen. Die scheinbar positive Tatsache, dass Dupics Arbeiter durch den neugewonnenen Arbeitsplatz eine sichere Geldquelle gewonnen haben, zeigt sich jedoch bald als illusorisch, da Dupic in der Stadt ein „Volkshaus“ errichtet, das die Funktion eines besseren Freudenhauses erfüllt. Das Haus sorgt allerdings nicht nur für weitere Verschuldung und Verpflichtung gegenüber dem Besitzer, sondern auch für den endgültigen moralischen Verfall der Stadtbewohner. Dupics Ziel ist es dabei nicht, an der Stadt Boran möglichst viel Profit zu erreichen, sondern hier vielmehr eine gottesähnliche Position einzunehmen, die ihm eine unendliche Macht über Andere gewährt. Trotz seiner zahlreichen Geldspekulationen und ungeheurem Geldvermögen soll er nicht Kapitalismus, sondern das Böse an sich vertreten, da zugleich einem Chaoszustand gleicht. So wechselt er gelegentlich die brutale Ausbeutung der Stadtbewohner durch vereinzelte und völlig unmotivierte Geldgeschenke, was die Stadtbewohner in Verwirrung setzt und zugleich unter ihnen gegenseitigen Neid anregt. Die Stadt wird auf eine solche Weise umgewandelt, die alle Anzeichen einer Dystopie trägt. Weder der pragmatisch denkenden, emanzipierten Jüdin Elsa, die sich gegen die Wirkung Dupics als erfolgreiche Unternehmerin in Boran durchsetzt, noch  dem Jesus-ähnlichen Sohn Dupics, der eine Bekehrung seines Vaters zum Guten anstrebt, kann den Tyrann zum Fall zu bringen. Dies gelingt schließlich kennzeichnend einem moralisch noch unverdorbenen kleinen Kind, das Dupic bei einem Unfall in den Tod treibt. Die Handlung wird durch den Tod Dupics abrupt beendet, das offene Ende deutet jedoch an, dass der von ihm angesetzte moralische Verfall und die Geldgier der Stadtbewohner über seinen Tod hinaus weiter gehen wird.

Mit der Ausnahme des Protagonisten Dupic, der von dem Kriegsgeschehen profitiert, ist die Einstellung der anderen Figuren zum Krieg sowie die des ganzen Textes eindeutig ablehnend. Der Krieg und seine Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation und die psychische Lage sowohl der im Hinterland gebliebenen als auch der Soldaten auf der Front werden im Text als eindeutige Ursache für den moralischen Verfall der Nachkriegsgesellschaft und für eine mögliche Entwicklung der Gesellschaft zu einem derartigen totalitären Regime, der die in ihm lebenden Menschen willkürlich manipulieren und beherrschen kann.

 

 

Sinnangebote:

Der Text sieht in dem Krieg, entsprechend seiner negativen Einstellung zum demselben, keinen Sinn. Für den Protagonisten, den Spekulanten Dupic, stellt der Krieg ein Mittel dazu dar, möglichst viel Macht über andere Menschen zu gewinnen.